PERSÖNLICHKEITSENTWICKLUNG DIE KONSTRUKTIONS-UND-ENTWICKLUNGSTHEORIE von Robert KEGAN im Vergleich mit dem SELBSTVERWIRKLICHUNGSMODELL von Abraham H. MASLOW Psychologisches Institut der Universität Basel/Schweiz
Helmut Lubbers Inhaltsverzeichnis : Seite:0. Zusammenfassung 1 1. Einleitung 2 2. Persönlichkeitsentwicklung als psychologische Denkrichtung 3 3. Biographische Skizzen von Robert KEGAN und Abraham MASLOW 7 3.1 Robert KEGAN 7 3.2 Abraham Harold MASLOW 9 4. Die Konstruktions-und-Entwicklungstheorie von Robert KEGAN 11 4.1 Philosophische Grundlagen 11 4.2 Theoretische Grundlagen 11 4.3 Die Konstruktions-und-Entwicklungstheorie 13 5. Das Selbstaktualisierungsmodell von Abraham MASLOW 18 5.1 Philosophische Grundlagen 18 5.2 Theoretische Grundlagen 20 5.3 Das Modell der Selbstaktualisierung 21 6. Die Theorien von KEGAN und MASLOW im Vergleich 24 6.1 Allgemeine Bemerkungen zu psychologischen Theorien 24 6.2 KEGANs Konstruktions-und-Entwicklungstheorie 29 6.3 MASLOWs Selbstaktualisierungstheorie 30 7. Synthese und Ausblick 32 8. Literaturliste 33 9. Bildnachweis 36 0. Zusammenfassung Die Persönlichkeitsentwicklungsmodelle von Robert KEGAN und Abraham MASLOW weisen wesentliche methodische und theoretische Unterschiede auf. Es wird versucht, ihre Theorien in den grösseren Rahmen der psychologischen Denkrichtungen einzuordnen. Die Ansichten der Beteiligten sind widersprüchlich. Biographische Skizzen geben zunächst Hinweise auf lebensgeschichtliche Hintergründe. KEGANs Modell will Psychoanalyse und kognitive Entwicklungstheorie umfassen. MASLOWs Modell will Psychoanalyse und Behaviorismus in sich vereinen. Die Konstruktions-und-Entwicklungstheorie von KEGAN könnte philosophisch auf Gedanken einer erwünschten menschlichen Entwicklung zu einer höheren Stufe beruhen, wobei eine fürsorgliche, einbindende Gemeinschaft zentral steht. Theoretische Grundlagen bilden hauptsächlich die Erkenntnistheorie von PIAGET, die Neo-Psycholanalyse von ERIKSON und der strukturalistische Ansatz KOHLBERGs, aber auch humanistisches Gedankengut. Die Konstruktions-und-Entwicklungstheorie setzt den Menschen in eine Entwicklungsspirale, wobei Bedeutungsbildung, Aufbau, Festigung und Änderung von Bedeutungsstrukturen sich auf höheren Entwicklungsstufen wiederholen. Phasen des Gleichgewichts und Krisen wechseln ab und führen den Menschen weiter. In der Ausarbeitung und Anwendung ist KEGANs Denkmodell eher klinisch orientiert, und es geht vom abweichenden Verhalten aus. Die Selbstaktualisierungstheorie von MASLOW beruht auf dem Glauben an die angeborene Güte des Menschen. MASLOW meint, dass instinktoide Bedürfnisse den Menschen selbstlenkend zur Entfaltung und unter günstigen Voraussetzungen schliesslich zur Selbstverwirklichung führen. Sogenannte Gipfelerlebnisse sind selten und von kurzer Dauer, aber sie unterstützen die Selbstaktualisierung, das Seinsgefühl. Philosophie, theoretische Grundlagen und Theorie sind untereinander verwoben. MASLOWs Denkmodell misst sich ganz an den 'seelisch gesunden' Menschen. Die Entwicklungspsychologien von KEGAN und MASLOW umfassen die Lebensspanne von der Geburt bis zum Alter, aber sie berücksichtigen keine pränatale Psychologie. Eine strukturalistische Theorie birgt, trotz der psychotherapeutischen Möglichkeiten, die Gefahr einer einseitigen Betrachtungsweise in sich. Eine 'offene' Theorie bietet wenig klassisch-wissenschaftliche Anhaltspunkte, doch lässt sich auch die gesunde Psyche empirisch erforschen. Die Erfahrungsdaten über 'Gesunde' können einen Weg zur Lebensgestaltung zeigen. Bei unterschiedlichen theoretischen Ansätzen wird der Erfolg bei der Lebenshilfe, in der Psychotherapie doch vorrangig von zwischenmenschlichem Vertrauen und von Wärme bestimmt. Und hier begegnen sich KEGAN und MASLOW, in ihrer Liebe zu den Mitmenschen, in ihrem Glauben an ein "Süsseres Willkommen".
1. Einleitung Die Entwicklung der Persönlichkeit, vom Neugeborenen (umfassender noch: auch vorgeburtlich während der Schwangerschaft) bis zur betagten Person (bis zum Sterben) ist Gegenstand der Entwicklungspsychologie. Es gibt viele ernsthafte Entwicklungsmodelle, -beschreibungen und -erklärungen. Es würde jedoch den Rahmen einer Seminararbeit sprengen, auch nur die wichtigsten Theorien darzustellen oder Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Es ist ebenfalls ein heikles Unterfangen, die Theorien von nur zwei Psychologen in einer kurzen Arbeit zusammenfassend darzustellen und zu vergleichen. Man muss bereits einen sehr 'weisen' Überblick haben und die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten voll ausnutzen können, um bei der unumgänglichen 'Verdichtung' des grundlegenden Gedankenguts den ursprünglichen Gehalt und die Vielseitigkeit zu bewahren. Auch diese Proseminararbeit wertet, verzerrt gewissermassen bereits durch die Wortwahl und durch die Auswahl der Zitate. An einigen Stellen sind Anmerkungen eingeflochten, aber eine kritische Würdigung erfolgt im Abschnitt 7. Die Entwicklungstheorie von KEGAN wurde im Sommersemester 1988 im Proseminar Persönlichkeitsentwicklung behandelt, und zwar anhand seines Buches "Entwicklungsstufen des Selbst - Fortschritte und Krisen im menschlichen Leben" (1986, Orig.: 1982, The Evolving Self - Problem and Process in Human Development). Auch die auf den Seiten 7 und 8 erwähnten Arbeiten KEGANs wurden zu Rate gezogen. Die für das Studium von MASLOWs Theorien herangezogenen Originalwerke sind "Psychologie des Seins" (1973, Orig.: 1968, Toward a Psychology of Being), Motivation and Personality" (1970) und "The Farther Reaches of Human Nature" (1971). Das letzte Werk "Die weiteren Bereiche der menschlichen Natur" wurde noch von ihm selbst vorbereitet, musste jedoch posthum erscheinen. Eine Gegenüberstellung der Theorien von KEGAN und MASLOW als Thematik für diese Arbeit wurde zuerst ohne grosse Hintergedanken gewählt. Bei der Vertiefung des Stoffes zeigte sich dann bald, dass hier zwei Psychologien verglichen werden sollen, die methodisch, und beim ersten Hinsehen auch philosophisch aus ganz unterschiedlichen Bereichen stammen.
2. Persönlichkeitsentwicklung als psychologische Denkrichtung Sowohl KEGAN als auch MASLOW betonen den Platz, den ihre Theorie der Persönlichkeitsentwicklung im Rahmen der psychologischen Denkrichtungen einnimmt. Robert KEGAN hat sein "The Evolving Self" dem Gedächtnis des Kognitionspsychologen Jean PIAGET gewidmet und er spricht von seiner ">neo-PIAGETschen< Theorie der Persönlichkeit" (1986, 23). KEGAN versucht nicht, die "... neo-psychoanalytischen Theorien und die existentialistisch-phänomenologischen Ansätze in einer Theorie zu vereinen." "Vielmehr wird eine dritte psychologische Denkrichtung vorgeschlagen, bei der aber überraschenderweise die Grundannahmen der existentialistischen wie der dynamischen Persönlichkeitspsychologie schliesslich doch wieder stark berücksichtigt werden. Diese dritte Auffassung möchte ich mit den Begriffen >Konstruktion< und >Entwicklung< kennzeichnen (es geht um die Aktivität der Bedeutungsbildung)" (KEGAN 1986, 22). Zu den "existentialistisch-phänomenologischen Ansätzen" zählt er u.a. "... Lecky 1945; Maslow 1954; May 1958; Binswanger 1963; Angyal 1965, als deren einflussreichster Vertreter für Therapie und klinische Psychologie wohl Carl Rogers 1951 gelten kann" (KEGAN 1986, 22). Abraham MASLOW spricht auch vom "dritten Weg", jedoch meint er damit die Wege des Behaviorismus und der Psychoanalyse. Er wehrte sich gegen zweiteilende Denkweisen und sagte: "Ich bin Freudianer und ich bin Behaviorist und ich bin Humanist, und eigentlich entwickle ich ebenfalls eine vierte Psychologie, die man eine Psychologie der Transzendenz nennen könnte " (MASLOW 1971, 4, Übers. d. Verf.) (Nach DUDEN (1974, 738) bedeutet Transzendenz "das Überschreiten der Grenzen der Erfahrung, des Diesseits (philos.)" und "transzendental" die Grenzen der Erfahrung und der sinnlich erkennbaren Welt überschreitend"). MASLOW verwendete zuerst die Bezeichnung "holistisch-dynamisch" für seine Organismus-Betrachtungsweise der Psychologie. Ab 1962, dem Gründungsjahr der "American Association for Humanistic Psychology" wurde "humanistische Psychologie" definiert als "... der dritte Hauptast der allgemeinen Psychologie (neben der psycholoanalytischen und behavioristischen), und als solches betrifft sie in erster Linie jene menschlichen Kapazitäten und Möglichkeiten, die keinen systematischen Platz haben, weder in der positivistischen oder behavioristischen, noch in der klassischen, psychoanalytischen Theorie, z.B. Kreativität, Liebe, eigenes Wachstum, ..., Selbstverwirklichung, höhere Werte, Sein, Werden, Spontaneität, Spiel, Humor, Zuneigung, Selbst-Übersteigung (ego-transcendence), ..., Verantwortung, psychologische Gesundheit, und verwandte Auffassungen", wie Benjamin WOLMAN zitiert (1977, 32, Übersetzungen d. Verf.). Während MASLOW also versuchte, Tiefenpsychologie und Behaviorismus in seine humanistische Psychologie zu vereinen, meint KEGAN: "Es ist keine leichte Aufgabe, eine Metapsychologie zu entwickeln, die Psychoanalyse und kognitive Entwicklungstheorie umfasst" (KEGAN 1986, 35). KEGAN nennt MASLOW im Rahmen existentialistisch-phänomenologischer Ansätze und erwähnt die ">Aktualisierungstendenz<" der "Schule Rogers" in einem ausführlichen Zitat (1986, 22). Auch bei seinem Vergleich von verschiedenen Entwicklungstheorien in bezug auf das Subjekt-Objekt-Gleichgewicht als gemeinsames Prinzip stellt er MASLOW neben andere Entwicklungspsychologen, wie in der nachfolgenden Aufstellung (siehe Seite 17) aus KEGANs "Entwicklungsstufen des Selbst" ersichtlich ist (KEGAN 1986, 122-123). In drei der bekanntesten Büchern MASLOWs dagegen, "Psychologie des Seins" (1973, Orig.: 1968), Motivation and Personality" (1970) und "The Farther Reaches of Human Nature" (1971) wurden nur zwei kurze Bezugnahmen auf PIAGET gefunden: "Erinnern wir uns an dieser Stelle auch an Piagets Kinder, die sich nicht gleichzeitig als Genfer und als Schweizer sehen konnten, bis sie zu dem Punkt herangereift waren, wo sie eins ins andere einbeziehen und beides gleichzeitig in einer hierarchisch integrierten Weise betrachten konnten" (Hierbei stützt MASLOW sich auf Gordon ALLPORT, 1955, The Nature of Personality) und "Unreifes und reifes Erkennen sind am besten von Werner und Piaget beschrieben worden" (MASLOW 1973, 181, 202). In zufällig ausgewählten Handbüchern finden sich ebenfalls unterschiedliche Auffassungen über psychologische Denkrichtungen. Die Entwicklungspsychologie von MASLOW gehört zum Bereich der humanistischen Psychologie, die in manchen Bereichen zugleich eine Philosophie ist, "... in der die Würde des einzelnen Menschen und das Vertrauen in seiner Selbstorganisation einen hohen Stellenwert hat", wie August FLAMMER (1988, 108) schreibt. Ute und Wolfgang SCHÖNPFLUG (1983, 28, 40) unterscheiden drei theoretische Richtungen: die Psychoanalyse, den Kognitivismus (Erkenntnispsychologie) und den Behaviorismus (Verhaltenspsychologie), wobei die Humanistische Psychologie als eine Gruppe bezeichnet wird, die auf den Prinzipien des Kognitivismus aufbaut. Demgegenüber sieht STALMAN (1982, 32-33), in Kindlers Handbuch Psychologie, die Tiefenpsychologie (klassische und Neo-Psychoanalyse), den Behaviorismus und die Humanistische Psychologie als die drei Hauptströmungen der heutigen Psychologie. Die untenstehende "Übersicht über die Entwicklung der wichtigsten psychologischen Denkrichtungen in der Psychologie" von Reinhart STALMAN (1982, 29) könnte mit der "philosophischen Abstammungslinie von Persönlichkeitstheoretikern des zwanzigsten Jahrhunderts" von Ronald FORGUS und Bernard SHULMAN (1979, 24, Übers. d. Verf.) auf der nächsten Seite verglichen werden.
3. Biographische Skizzen von Robert KEGAN und Abraham MASLOW Wissenschaft wird von Menschen gemacht, die Teil unserer Gesellschaft sind. Eine Theorie kann deshalb manchmal besser verstanden werden, wenn sie vor dem Hintergrund der Person und Biographie des Verfassers steht. (vgl. SCHÖNPFLUG & SCHÖNPFLUG 1983, 31) 3.1 Robert KEGAN Robert KEGAN, mit seinen eigenen Worten: "Ein mittleres Kind, geboren in der Jahrhundertmitte, von Mittelklasse-Eltern im amerikanischen Mittelwesten. Robert KEGAN war immer >zwischen<." (KEGAN 1988) Er studierte Literatur, Philosophie und Theologie und war Lehrer auf verschiedenen amerikanischen Schulstufen. Unter der Leitung von William PERRY, William ROGERS und Lawrence KOHLBERG machte er einen Studienabschluss als Doktor der Philosophie. Er lehrt klinische Entwicklungspsychologie an der Harvard Diplomschule für Erziehung und an der Massachusetts Schule für Berufspsychologie. Er macht Untersuchungen über eine Entwicklungspsychologie des Selbst, praktiziert als Psychotherapeut und ist einer der Leiter des Instituts für klinische Entwicklung" (KEGAN 1988, Übers. d. Verf.). KEGAN betrachtet Jean PIAGET und Erik ERIKSON als seine grossen Vorbilder in der Psychologie. Auch Lawrence KOHLBERG bringt er hohe Achtung entgegen. Die Titel einiger seiner Veröffentlichungen vermitteln ein Bild von KEGANs psychologisch-wissenschaftlichen Interessen: 1982 The Psychologic of Emotion: A Neo-Piagetian View. (mit Gil NOAM und Laura ROGERS), in: CICHETTI, D. & HESSE, P. (Hrsg.) New Directions for Child Development: Emotional Development. No. 16, San Francisco: Jossey-Bass. 1984 Adult Leadership and Adult Development: A Constructivist View. (mit Lisa LASKOW LAHEY, in: KELLERMANN, B. (Hrsg.) Leadership: Multidisciplinary Perspectives). 1985 The Loss of the Dragon: Developments of the Self in the Years Five to Seven. (in: The Development of the Self). 1986 The Child behind the Mask: Sociopathy as a Developmental Delay. (in: REID W. et al., (Hrsg.) Unmasking the Psychopath: Antisocial Personality and Related Syndroms). 1988 Kohlberg and the Psychology of Ego Development: A Predominantly Positive Evaluation. Zu erscheinen in: MODGIL S. & MODGIL C. (Hrsg.) Lawrence Kohlberg: Concensus and Controversy. Eines seiner ersten Werke ist eher philosophisch: "The Sweeter Welcome. Voices for a vision of affirmation: Bellow, Malamud and Martin Buber" (1976, Übersetzungen d. Verf.) (Das süssere Willkommen. Stimmen für eine Vision der Bejahung: Bellow, Malamud und Martin Buber). Hierin tritt KEGAN für "... die Süsse der Gemeinschaft nach der kargen Einsamkeit ihrer Abwesenheit ..." ein. Das Buch "... verbreitet Gerüchte eines Auftauens: einer anderen Art von Literatur - einer anderen Philosophie - über moderne Leute, die von einem Leben der Bejahung erzählen, von menschlichem Willkommen, von Gemeinschaft und Umarmung" (S. 4). KEGAN wiederholt eine "Sinn"-Frage: "Wenn es 'dort oben' nichts gibt, was gibt es dann hier unten?" (S. 9), und versucht eine Antwort aus der Tradition des Chassidismus, einer jüdischen Glaubensrichtung, indem er Martin BUBER zitiert: "Ich sah das menschliche Leben als eine Möglichkeit zu einem Zwiegespräch mit dem Sein" (S. 23 ). Aus Werken der drei genannten Schriftsteller arbeitet KEGAN "die Seele" heraus, "... welche aus vier wesentlichen chassidischen Lebenshaltungen besteht: >hitlahabut< oder Verzückung, >aboda< oder Arbeit, Dienst, Verehrung, >kavana< oder Absicht und >shiflut< oder Demut" (S. 21). Menschliche Gemeinschaft ist möglich, so KEGAN, wenn das tägliche Leben ein Sich-Zuwenden ist, ein Sich-Zuwenden zu der Liebe, die im Alltag zu finden ist (S. 33). Hier begegnet KEGAN dem Sozialphilosophen und Sozialpsychologen Erich FROMM, der über seine Talmud-Studien vom Chassidismus beeinflusst wurde, wie Rainer FUNK (1983, 37–45), FROMMs Biograph und Nachlassverwalter darlegt. FROMM wird als Psychoanalytiker auch zu den Neufreudianern gezählt. Über FROMM als Humanisten liesse sich ein Bogen von KEGAN zu MASLOW spannen.
3.2 Abraham Harold MASLOW Abraham MASLOW, mit seinen eigenen Worten: "Ich war sozialistisch interessiert, im Sinne des amerikanischen Sozialismus. Ich hatte Teil an der jüdischen Tradition, die nach dem Utopischen und dem Ethischen strebte, und ich war ganz wohlbewusst auf der Suche nach Verbesserung für die Menschheit", wie Willard FRICK (1974, 30) zitiert. "Ich war unzweifelhaft neurotisch, schwer neurotisch, während den ersten zwanzig Jahren meines Lebens verwarf mich selbst, usw. - aber theoretisch hätte es noch viel schlimmer sein sollen." Als er in der Schule in der Lateinstunde zum ersten Mal bewundert wurde, weil er gut lernen konnte, umschreibt MASLOW dies als "der Anfang einer glücklichen Periode". Als er neunzehn war, küsste er zum ersten Mal ein Mädchen, Bertha, seine spätere Frau, als ihre Schwester sie in seine Arme schubste. "Ich küsste sie und nichts Schreckliches geschah - der Himmel kam nicht herunter." Das Ergebnis war eine enorme Zunahme seines Selbstvertrauens. "Ich wurde von einer Frau akzeptiert. Ich war so wahnsinnig glücklich mit ihr. Es war eine mächtige, tiefe, totale Liebe." In einem Brief an Colin WILSON beschrieb er diesen Kuss als eines der grössten Gipfelerlebnisse in seinem Leben. 1928 heirateten sie (WILSON 1973, 129-134). Die Geburt seiner Kinder hatte grossen Einfluss auf MASLOW, der eine behavioristische Ausbildung hatte. Er schrieb (MASLOW 1968, 56): "Dann, als mein Baby geboren war, war das der Donnerschlag, der die Sache bestimmte. ... ich war durch das Mysterium verblüfft ... Ich würde sagen, dass ein jeder, der ein Baby gehabt hat, kein Behaviorist sein kann" (zitiert nach CARTWRIGHT 1979, 5, Übers. d. Verf.). MASLOW wurde 1908 als Ältester von sieben Kindern eines russisch-jüdischen Emigranten in einem Armenviertel von New York geboren. Die Beziehung zu seiner Mutter nannte er oberflächlich; seinen Vater liebte er sehr, obwohl er Angst vor ihm hatte. Als er neun war, zog die Familie in eine Mittelstandswohnung um. In dem neuen, nichtjüdischen Viertel wurde der magere und schüchterne Knabe plötzlich mit Antisemitismus konfrontiert. MASLOW studierte zuerst am New York City College (Diplomschule). Nachdem er eine Arbeit von J. B. WATSON gelesen hatte, begann ein Psychologiestudium in Wisconsin. Dort war er Untersuchungsassistent von Wiliam H. SHELDON (Varieties of Temperament) und wurde im klassischer Laboratoriumsuntersuchung ausgebildet. Unter Harry HARLOW spezialisierte er sich auf Verhaltensforschung bei Affen und dieses Interesse behielt er bis in die späten Jahren bei (MASLOW et al. 1960). Nach Abschluss seines Studiums in 1934, als er 26 war, arbeitete er 18 Monate beim WATSON-Schüler Edward L. THORNDIKE, der beim Teacher's College (Lehrer Diplomschule) der Columbia University angestellt war. THORNDIKE kam Anfang der dreissiger Jahre zum Schluss, dass Erfolg und Belohnung viel stärkere Lerneffekte ergeben als Misserfolg oder Strafe, und nannte dies "bestätigende Hirnreaktion". Von 1937 bis 1951 war MASLOW Lehrer am Brooklyn College. In dieser Zeit machte MASLOW Bekanntschaft mit u.a. Max WERTHEIMER, Begründer der Gestaltschule, Erich FROMM, Karen HORNEY, Kurt GOLDSTEIN, Alfred ADLER und der Antropologin Ruth BENEDICT, die ihn alle mehr oder weniger stark beeinflusst haben. So entwickelte MASLOW sich von einem biologischen zu einem humanistischen Psychologen, wobei er die biologischen Erkenntnisse in seine Theorie integrierte . Bereits 1937 schrieb er einen Aufsatz "Psychology and Patterns of Culture". Der Ausbruch des zweiten Weltkriegs hatte einen dramatischen Einfluss. MASLOW stellte sich die Frage: Warum ist die Psychologie unfähig, irgendetwas zum Weltfrieden beizutragen, zu der Lösung von grossen Problemen der Menschheit? MASLOW kam zum Schluss, dass die Psychologie ihre Aufmerksamkeit dem Tierversuch und dem Studium von Menschen, die seelisch krank waren, widmete. Aber keine dieser Themen konnte helfen, die Nationen in eine Friedenskonferenz zusammenzubringen. Und er setzte sich die Aufgabe, die besten Beispiele der Menschheit zu studieren, mit der Hoffnung, die höchste Leistungsfähigkeit zum Guten im Menschen zu entdecken und Methoden zu entwickeln, diese Fähigkeiten zu fördern (1968, 54, zitiert nach CARTWRIGHT 1979, 5, Übers. d. Verf.; vgl. MASLOW 1971, 3, Toward a Humanistic Biology). 1951 wurde er Dozent an der jüdischen Brandeis Universität in Waltham, Mass., wo er bis 1969 blieb, als ein Stipendium der kalifornischen Laughlin Foundation ihn von der akademischen Routine erlöste. MASLOW starb 1970 an einem Herzanfall. (Und falls Sie sich fragen, wer der Verfasser dieses bescheidenen Aufsatzes ist: Ich bin ein 47jähriger Psychologiestudent im vierten Semester. Vorher war ich als technischer Kaufman tätig. Ich bin geschieden und habe zwei bald erwachsene Kinder.)
4. Die Konstruktions-und-Entwicklungstheorie von Robert KEGAN 4.1 Philosophische Grundlagen KEGAN möchte einen anderen Menschen wirklich verstehen und ihm helfen können, und er meint, dass man dazu wissen sollte, auf welcher Entwicklungsebene die zu helfende Person sich befindet (KEGAN, 1986, 155). Könnte man hierdurch an philosophische Leitgedanken von KEGAN herangeführt werden? Ist seine Ansicht grundlegend, dass die Persönlichkeitsentwicklung eine Abfolge von Wandlungen darstellt, ein Prozess, der Bewältigungen erfordert, wobei den Menschen geholfen werden kann? KEGAN wünscht Ausgleich und Integration. Er möchte helfen, "das Gleichgewicht zwischen dem Selbst und den anderen wiederherzustellen" (KEGAN 1986, 32). Ist sein Wunsch, allgemeingültige Aussagen über die bedeutungsbildende Aktivität des Menschen zu machen (KEGAN 1986, 33) Philosophie? Sicher ist es die Überzeugung, dass der Mensch sich zu einer "höheren Stufe" entwickeln muss. 4.2 Theoretische Grundlagen Die Theorie über die Herkunft und Entwicklung der Kognition (genetische Epistemologie) von Jean PIAGET bildet sozusagen das Gerüst für die Konstruktions-und-Entwicklungstheorie von KEGAN. PIAGET verglich die kognitive Entwicklung von Kindern gerne mit einer Spirale: er interpretierte die Entwicklung des kindlichen Denkens zyklisch, als eine Abfolge von Phasen von Denkstrukturen. Eine Denkstruktur hat bei PIAGET den Status eines hypothetischen Konstrukts und wird über das Verhalten erschlossen. Jede Phase (Stufe) baut notwendigerweise auf die vorhergehenden auf. Er unterschied dabei vier Stufen: Auf jeder Stufe wiederholt sich der Egozentrismus, die Befangenheit im eigenen Standpunkt als Ausdruck von mangelndem Nachdenken (Reflexion). Anfängliche Zentrierungen (Ausrichtungen auf eine Ansicht) werden jeweils durch Dezentrierungen gelockert bis zur folgenden richtigen Koordination der verschiedenen Blickwinkel, einschliesslich des eigenen. Das Kind gibt sich dann gleichsam in einer Rückwendung des Bewusstseins auf sich selbst Rechenschaft vom eigenen Standpunkt. PIAGET benutzte dafür das Bild einer Umkehrung der Richtung des Bewusstseins, die in ihrer Wiederholung auf jeder Stufe (= vertikale Verschiebung) eine Spirale ergibt. Auf einer Stufe bilden ähnliche kognitive Schemata eine Erkenntnis-Struktur. Die Ebenen der geistigen Entwicklung PIAGETs, ergänzt mit dem Subjekt-Objekt-Gleichgewicht nach KEGAN (1986, 58, 65), sind: Entwicklungsebene : Subjekt (>Struktur<): Objekt (>Inhalt<):
I Sensumotorisch Handlungs-Empfindungs-Reflexe keins (0 - 2 Jahre) II Vor-operativ anschauliches Denken Handlungs-Empfindungs-Reflexe (2 - 5 Jahre ) (das "Wahrnehmbare") III Konkret-operativ reversible Operationen anschauliches Denken (6 - 10 Jahre ) (das "Gegenwärtige") (das "Wahrnehmbare") IV Formal-operativ "hypothetisch-deduktives reversible Operationen (11 - erwachsen) Denken (das "Mögliche") (das "Gegenwärtige") Jede Ebene hat ihre bestimmte Erkenntnis-Struktur und ihr Gleichgewicht. Das Kind sammelt neue Erfahrungen, passt diese in die bestehende Struktur ein (Assimilation) und ändert die Schemata der Struktur (Akkommodation) je nach Erfordernis der Situation. Widersprüche in den Erkenntnissen werden durch Umstrukturierung ausgeglichen (Äquilibration). Gegen Ende einer Entwicklungsphase ist die Umstrukturierung nach den kognitiven Kriterien von PIAGET so auffallend, dass von einer neuen Ebene gesprochen werden kann. Auf einer Ebene ist das Kind sozusagen eins mit dem Erkenntnis-Inhalt der Ebene. Auf der nächsten Ebene kann es dann den Inhalt der vorigen Ebene von aussen her betrachten. (Piaget unterteilt die Entwicklungsebenen auch noch in Stufen.) PIAGETs Konzept der Akkommodation - Assimilation - Äquilibration ist sein genetisches Erklärungsmodell für die intellektuelle Entwicklung des Kindes. (Genetisch ist zu verstehen als 'entstehend'.)Das Modell von Lawrence KOHLBERG über die Entwicklung der moralischen Bedeutung, bildet eine weitere wichtige Grundlage für KEGANs Modell. Die Ebenen der moralischen Entwicklung KOHLBERGs, (KEGAN 1986, 79-81), sind: Entwicklungsebene: Gleichgewichtsstufe: I Vor-Konventionell 1 Fremdbestimmte Moral 2 Individualismus, Zweckdenken, Austausch II Konventionell 3 Gegenseitige Erwartungen im zwischenmenschlichen Bereich, Beziehungen, Konformität mit anderen 4 Soziales System und Gewissen III Post-Konventionell 5 Sozialvertrag oder sozialer Nutzen und individuelle Rechte oder prinzipiell 6 Allgemeingültige ethische Prinzipien Das Subjekt-Objekt-Gleichgewicht auf KOHLBERGs Stufen der moralischen Entwicklung stellt KEGAN (1986,105) wie folgt dar: Gleichgewichtsstufe : Subjekt (>Struktur<): Objekt (>Inhalt<):1 Orientierung an Strafe soziale Wahrnehmungen Reflexe, Empfindungen, und Gehorsam Bewegungen 2 Zweckdenken einfache Rollenübernahme, soziale Wahrnehmungen Austausch 3 Orientierung an, wechsselseitige Beziehungen einfache Rollenübernahme, Übereinstimmung mit und wechselseitige Austausch anderen Rollenübernahme 4 Orientierung an der gesellschaftliche Gruppe wechsselseitige Beziehungen Gesellschaft und wechselseitige Rollenübernahme
5 Orientierung an gesamte menschliche gesellschaftliche Gruppe allgemeingültige Gemeinschaft, Rechte, Prinzipien Überindividualität 4.3 Die Konstruktions-und-Entwicklungstheorie KEGAN setzt Menschsein einer Aktivität gleich und er nennt diese Aktivität 'Bedeutungsbildung'. "Es gibt keine Gefühle, keine Erfahrungen, keine Gedanken und keine Wahrnehmungen, die von dem Prozess der Bedeutungsbildung unabhängig wären. Erst durch den Prozess der Bedeutungsbildung wird etwas zu Gefühlen, Erfahrungen, Gedanken und Wahrnehmungen, weil wir nämlich dieser Prozess sind" (1986, 31). KEGAN hält "... die Entwicklung der Aktivität der Bedeutungsbildung für den Grundprozess der Persönlichkeit" (1986, 37). Bedeutungsbildung wird verstanden als "... ein im wesentlichen natürlicher erkenntnisbezogener Prozess, ein Prozess, bei dem es darum geht, zwischen Subjekt und Objekt oder Selbst und anderen immer wieder erneut Gleichgewicht herzustellen" (1986, 32). PIAGETs Ansatz beschreibt diesen Prozess von einem äusseren Standpunkt aus, indem er die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten in einem System zusammenfasst. PIAGET habe jedoch "... einen anderen, ebenso wichtigen Aspekt der gestaltenden Aktivität des Menschen überhaupt nicht beachtet - nämlich wie ein dynamisch sich aufrechterhaltendes >Selbst< diese Aktivität erfährt, welche Rhythmen im Prozess der Bedeutungsbildung auftreten, welche Mühen es kostet, wenn wir Bedeutung bilden, sie besitzen, sie verteidigen, sie erweitern, sie verlieren, womit wir auch das >Selbst< verlieren" (1986, 32). Allerdings hat PIAGET selber von Anfang an betont, er sei kein Psychologe sondern ein >genetischer Erkenntnistheoretiker< (KEGAN 1986, 48). An dieser Stelle darf vielleicht angemerkt werden, dass John FLAVELL mit seinem 1963 erschienenen Buch anscheinend massgeblich zu der Verbreitung der Theorien PIAGETs in den USA beigetragen hat. Jedoch hat, ebenfalls nach Ansicht von Thomas KESSELRING (1988, 191), "... PIAGETs Begriff der reflektierenden Abstraktion in die angelsächsischen Diskussionen nicht Eingang gefunden, was zu groben Missverständnissen seiner Stufenkonzeption geführt hat". Reflektierende Abstraktion ist das Achten auf unser eigenes Tun, unsere Gedanken, Vorstellungen und Gefühle, wobei wir sozusagen eine sinnlich wahrnehmbare Eigenschaft oder einen Aspekt aus einem Gesamtzusammenhang isolieren. "PIAGETs Untersuchungen machen deutlich, dass Menschen (Erwachsene wie Kinder) viel häufiger >reflektieren< als man gemeinhin vermuten könnte: in vielen Fällen >reflektieren< wir, ohne uns darüber Rechenschaft zu geben" (KESSELRING 1988, 93). "PIAGETs Ausführungen zur reflektierenden Abstraktion bieten wohl den besten Leitfaden durch die psychologische Entstehungsgeschichte der menschlichen Denk- und Erkenntnisfunktionen. Von einer >reflektierenden Abstraktion< sprach er erstmals um die Mitte seiner Schaffenszeit, als er sich dem Vergleich zwischen der individuellen Intelligenzentwicklung oder Psychogenese und der Geschichte des abendländischen Denkens, speziell des mathemathischen und wissenschaftlichen Denkens, zuwandte. (1950 I-III). In seinen späteren erkenntnistheoretischen Werken (vor allem 1961a, 1967, 1968, 1974 und 1975) räumte er ihr neben der Äquilibration eine immer wichtigere Stellung ein. Empirisch untersuchte er sie allerdings erst in den siebziger Jahren (1977)" (KESSELRING 1988, 95). Mary Ann POLASKI erwähnt, dass PIAGET selber erklärte, er habe seine Theorie nie abgeschlossen und er betrachte sich selbst als einen "Hauptrevisionisten PIAGETs" (PULASKI 1975, 9). KEGANs Leitgedanken bei der Bedeutungsbildung sind Konstruktion und Entwicklung. Die Idee der Konstruktion geht davon aus, dass der Mensch seine Umwelt, sein Dasein aktiv gestaltet. Die Idee der Entwicklung bedeutet für KEGAN, dass "... sich organische Systeme in gesetzmässig wechselnden, qualitativ unterschiedlichen Phasen der Stabilität und Veränderung entwickeln" (1986, 34). Sigmund FREUD sah ein inneres, dynamisches Gleichgewicht zwischen Trieben und Abwehrmechanismen. PIAGETs Äquilibration ist eher ein äusserliches Gleichgewicht, bezogen auf das Umfeld. Der Entwicklungsprozess bei KEGAN ist eine bedeutungsbildende Aktivität der Differenzierung und der Reintegration. Phasen des Gleichgewichts oder dynamischer Stabilität werden von Phasen der Instabilität abgelöst, bis wieder ein neues Gleichgewicht gefunden wird. PIAGETs spezifisches Forschungsgebiet war der begrenzte Bereich der Bedeutungsbildung über die materielle Welt. KOHLBERG versucht, die moralische Bedeutungsbildung zu erfassen. KEGAN nun unterscheidet sechs Stufen der sozial-kognitiven Bedeutungsbildung (KEGAN, 1986, 160-162): Gleichgewichtsstufe : Psychologisches Eingebundensein in: Einbindende Kultur:0 EINVERLEIBEND Reflexe, Empfindungen, Bewegungen Mütterlich. (0 - 2 Jahre) 1 IMPULSIV Impulse, Wahrnehmungen Elterlich. (2 - 5 Jahre) 2 SOUVERÄN beständige Disposition, Bedürfnisse, Rollen anerkennend (5 - 10 Jahre) Interessen, Wünsche 3 ZWISCHENMENSCHLICH wechselseitige Beziehungen, Wechselseitigkeit (10 - 18 Jahre) zwischenmenschliche Übereinstimmung 4 INSTITUTIONELL persönliche Unabhängigkeit, Identität oder (erwachsen) Identität des Selbstsystems Selbstgestaltung 5 ÜBERINDIVIDUELL Durchdringung der Systeme Intimität (erwachsen) Auf jeder Stufe besteht das sogenannte Subjekt-Objekt-Gleichgewicht (siehe auch die Tabelle auf Seite 4), das mit dem Wissen um die Welt entsteht. Als Subjekt ist das Kind und später der Erwachsene eins mit den Inhalten seiner Erkenntnis-Stufe und kann sie nicht zum Gegenstand seiner Betrachtung machen. Das Kind ist sozusagen "eingebunden" in seine Wahrnehmungen (KEGAN 1986, 51). Die Bedeutungsbildung führt dann allmählich dazu, dass ein Kind sozusagen "über" eine Sache zu stehen kommt. Das bisherige Subjekt wird zum Objekt und ein neues Gleichgewicht wird gefunden. Die Erkenntnisstrukturen der neuen Stufe umfassen auch die Inhalte der vorherigen Stufe. Übertritte von einer zur nächsten Stufe erfolgen mit der Bewältigung der "natürlichen Krisen des Selbst" (KEGAN 1986, 153ff). Die Entwicklung der Persönlichkeit führt zu Wachstum und Verlust der jeweiligen Organisationsformen des Selbst. Dabei hat die einbindende Kultur wesentliche Aufgaben. Der Mensch verlangt nach Zugehörigkeit und nach Unabhängigkeit, und es entstehen Widersprüche und Krisen, die überwunden werden müssen. Die einbindende Kultur muss festhalten und das Kind bzw. den Erwachsenen in seinem Sein bestätigen. Die Kultur muss jedoch auch loslassen, aber trotzdem in der Nähe bleiben. Eine ausgewogene Erfüllung dieser drei Funktionen der einbindenden Kultur hilft dem sich entwickelnden Selbst bei der Bewältigung der Krisen. Die Spirale (KEGAN 1986, 152) zeigt die wiederkehrenden Gleichgewichtsstufen:
Auf der letzten Stufe von KEGANs Modell wird Intimität (Vertrauen) erreicht. Die Intimität im überindividuellen Gleichgewicht umfasst eine Wechselseitigkeit, die bedeutet, "... dass man den zwischen sich selbst und den anderen bestehenden Unterschied bewahrt, dabei gleichzeitig aber einen übergreifenderen Bezugsrahmen schafft, in dem sich die verschiedenen Identitäten durchdringen können, durch den sie gemeinsam reguliert werden und der für die Beteiligten eine gefühlsmässige Bedeutung gewinnt, die über das Interesse an ihren getrennten Identitäten hinausgeht. Wechselseitigkeit wird nun zu einer Frage von Halten und Gehaltenwerden, es geht darum, sich gegenseitig Gelegenheit zu geben, beide Pole des für den Lebensprozess grundlegenden Spannungsfeldes zu erfahren und zu leben" (KEGAN 1986, 331). KEGAN (1986, 122-123) betrachtet das Subjekt-Objekt-Gleichgewicht auch unter dem Aspekt eines gemeinsamen Prinzips verschiedener Entwicklungstheorien: Stufe O Stufe 1 Stufe 2 Stufe 3 Stufe 4 Stufe 5 einverleibend impulsiv souverän zwischen- institutionell überindividuell menschlic Grundstruktur: Subjekt – Reflexe, Impulse, Bedürfnisse, wechsel- Eigenautorität, Überindividualität (Empfindungen, Wahrneh- Interessen, seitige Identität, Austausch Bewegungen) mungen Wünsche zwischen- psychische zwischen vs. menschliche Verwaltung, verschiedendenen Beziehungen Ideologie Selbssystemen
Objekt – keins Reflexe Impulse, Bedürfnisse, wechsel- Eigenautorität, (Empfindungen, Wahrneh- Interessen, seitige Identität, Bewegungen) mungen Wünsche zwischen- psychische menschliche Verwaltung, Beziehungen Ideologie Piaget sensu- vor-operativ konkret- formal- formal- post-formal- motorisch operativ operativ operativ dialektisch (Beginn) (voll ent- (von KEGAN wickelt) hinzugefügt) Kohlberg – Orientierung an Zweckdenken Überein- Orientierung Orientierung Strafe und stimmung an der an Prinzipien Gehorsam mit anderen Gesellschaft Loevinger vor-sozial impulsiv opportu- konfor- gewissenhaft autonom nistisch mistisch Maslow Orientierung Orientierung Orientierung Orientierung Orientierung Selbstaktuali- am physio- an der Befrie- an Sicherheit an Liebe, an Achtung und sierung logischen digung physio- Zuneigung, Selbstachtung Überleben logischer Zugehörigkeit Bedürfnisse McClelland/ – – Macht- Orientierung Leistungs- Orientirung Murray orientierung an Bezie- orientierung an Intimität hungen (von KEGAN hinzugefügt) Erikson – Initiative Werksinn Bindung Identität _ gegen gegen gegen gegen Schuldgefühl Minder- Verlassen- Identitäts- wertigkeits- sein diffusion gefühl (von KEGAN hinzugefügt)
NOAM und KEGAN (1982, 431) verwenden eine fast identische Aufstellung mit der Überschrift "Die Stufen des Verhältnisses zwischen Selbst und Anderem als logische Grundstruktur in verschiedenen Entwicklungstheorien", wobei sie Selbst–Anderes anstelle von Subjekt–Objekt setzen.
5. Das Selbstaktualisierungsmodell von Abraham MASLOW 5.1 Philosophische Grundlagen In seiner Einleitung zur überarbeiteten Ausgabe von "Motivation and Personality" gibt MASLOW (1970, Deutsch: 1981, Motivation und Persönlichkeit) u.a. mit den folgenden Worten den philosophischen Gedanken Ausdruck, die seinen Theorien zugrunde liegen: "Zwar ist es noch immer notwendig, sehr vorsichtig zu behaupten, es gäbe Voraussetzungen für die "Güte" der menschlichen Natur, aber es ist bereits möglich, den verzweifelten Glauben fest zu verneinen, dass die menschliche Natur letztlich und im Grunde verderbt und böse ist. Ein solcher Glaube ist nicht länger eine Angelegenheit nur des persönlichen Geschmacks. Man kann ihn nunmehr nur noch durch entschlossene Blindheit und Ignoranz aufrechterhalten, durch die Weigerungen, die Tatsachen zu berücksichtigen. Man muss ihn deshalb als persönliche Projektion betrachten und nicht als eine wohlüberlegte philosophische und psychologische Position" (MASLOW 1970, 8). "Die instinktoide Natur der Grundbedürfnisse bildet für mich die Basis eines Systems innerlicher menschlicher Werte, menschlicher Güter, die sich selbst bestätigen, die innerlich gut und wünschenswert sind und die keiner weiteren Rechtfertigungen bedürfen. Es handelt sich um eine Hierarchie von Werten, die man im Wesen der menschlichen Natur selbst findet. Sie werden nicht nur von allen Menschen gewünscht und begehrt, sondern auch in dem Sinn gebraucht, in dem sie für die Vermeidung von Krankheit und Psychopathologie notwendig sind. Um dasselbe mit anderen Worten zu sagen: diese grundlegenden Bedürfnisse und Metabedürfnisse sind auch innerliche Verstärker, sind unkonditionierte Stimuli, die man als Basis verwenden kann, auf der alle Arten instrumentalen Lernens und Konditionierens errichtet werden können. Das bedeutet soviel wie: Um diese innerlichen Güter zu bekommen, sind Tiere und Menschen bereit, praktisch alles zu lernen. Ich möchte hier ebenfalls erwähnen, auch wenn ich nicht den Platz habe, um es weiterzuverfolgen, dass es legitim und fruchtbar ist, die instinktoiden grundlegenden Bedürfnisse und die Metabedürfnisse als Rechte sowohl wie als Pflichten zu betrachten. Das folgt unmittelbar aus der Annahme, dass Menschen ein Recht darauf haben, menschlich zu sein, so wie Katzen ein Recht darauf haben, Katzen zu sein. Um voll menschlich zu sein, sind diese Befriedigungen von Bedürfnissen und Metabedürfnissen notwendig, und man kann sie deshalb als ein natürliches Recht betrachten" (MASLOW 1970, 11). Im ersten Kapitel "Toward a Humanistic Biology" (Zu einer humanistischen Biologie) seines letzten Werkes "The Farther Reaches of Human Nature" stellt MASLOW die Frage: "Was wäre, wenn der Organismus betrachtet wird als ausgestattet mit 'biologischer Weisheit'? Wenn wir lernen, ihm grösseres Vertrauen zu schenken, als einem Organismus, der nach eigenen Gesetzen lebt (autonom), selbstlenkend und selbstwählend, dann müssen wir Wissenschaftler, aber auch Ärzte, Lehrer oder sogar Eltern klar unser Bild in ein mehr taoistisches wandeln. Das ist das eine Wort, woran ich denken kann, das die vielen Elemente des mehr humanistischen Wissenschaftlers kurz zusammenfasst. Taoistisch bedeutet eher Fragen als Sagen. Es bedeutet Nicht-Eindringen, Nicht-Befehlen. Es betont eher nicht-einmischende Beobachtung als steuernde Beeinflussung. Es ist eher empfangend und passiv als aktiv und kräftig. Es ist, als ob man sagt, wenn man über Enten lernen wolle, solle man lieber die Enten fragen als es den Enten zu erzählen. Gleiches gilt für menschliche Kinder. Wenn man ihnen vorschreibt, 'was das Beste für sie ist', scheint es, dass die beste Methode um herauszufinden, was das Beste für sie ist, in der Entwicklung von Techniken besteht, um sie dazu zu bringen, uns zu erzählen, was das Beste für sie ist" (MASLOW 1971, 15, Übers. d. Verf.). Die Schriftstellerin und Psychotherapeutin Jean LIEDLOFF (1982, 38), die mehrere Jahre unter Amazonas-Indianern gelebt hat, nennt das in ihrem Buch "Auf der Suche nach dem verlorenen Glück" "... unsere angeborene Fähigkeit, das uns angemessene zu wählen...". Unter günstigen Umständen entwickelt das Kind sich zu einer "Good Person". "Dieser Gute Mensch kann auch die selbst-entwickelnde (self-evolving) Person genannt werden, den "für sich selbst und seine eigene Entfaltung verantwortlichen" Menschen, den voll erleuchteten oder erwachten oder klarsehenden (perspicuous) Menschen, die gänzlich menschliche Person, die selbstverwirklichende Person, usw" (MASLOW, 1971, 19, Übers. d. Verf.). MASLOW versuchte in vielen seiner Schriften diese Entwicklung und die Entwicklungsvoraussetzungen theoretisch zu fassen und empirisch nachzuweisen. Das führte zu seiner Theorie der Rangordnung von instinktartigen Grundbedürfnissen und übergreifenden Bedürfnissen (hierarchy of instinctoid basic needs and metaneeds) und Gipfelerlebnissen (peak-experiences). 5.2 Theoretische Grundlagen MASLOW geht von der Annahme aus, dass das Selbst sozusagen hervortritt (emerges) und sich unter günstigen Bedingungen zum Guten entwickelt, eben weil der Mensch von Natur aus gut sei. Er nimmt keinen speziellen Bezug auf eine bekannte Theorie. Allerdings führt er einige Untersuchungen an, die seine Annahmen seiner Meinung nach unterstützen. Von 1928 bis 1963 hat z.B. Lewis TERMAN in Kalifornien eine Longitudinalstudie über den Intelligenzquotienten durchgeführt. Seine wichtigste Schlussfolgerung war, dass alle wünschenswerten menschlichen Charakterzüge (traits) positiv korrelieren (MASLOW 1971, 6). Der Mensch sei durchaus imstande, zwischen ungesunden (neurotischen) und gesunden Wünschen zu unterscheiden und die richtige Wahl zu treffen. Als Beispiele nennt MASLOW (1971, 13) Colin WILSON, der klar nachgewiesen habe, dass Sexualverbrecher keine starken, sondern nur sehr schwache sexuelle Reaktionen haben, und L. KIRKENDALL, der die subjektive Überlegenheit von liebender über nichtliebende Sexualität aufzeigte. MASLOW (1971, 140) stellt die Hypothese auf, "... dass 'Synergie' eine nützliche Bedeutung von 'guten Bedingungen' ist (von Ruth BENEDICT definiert als 'sozial-institutionelle Voraussetzungen'), die Selbstsucht und Uneigennutz dadurch verschmelzen, dass ich automatisch anderen helfe, wenn ich eigennützige Ziele verfolge und, dass ich auch mich selbst automatisch belohne, wenn ich versuche altruistisch zu sein; das heisst, wenn der Zwiespalt oder die polare Opposition zwischen Selbstsucht und Altruismus gelöst und überstiegen ist.' Somit lautet die Hypothese: eine gute Gesellschaft ist derart, dass Tugend sich lohnt." "In den verschiedenen Studien über die freie Wahl bei unterschiedlichen Tierarten und bei Kindern denke ich, dass mit Hilfe der Synergie-Theorie eine weitere Verbesserung in den theoretischen Ansätzen erreicht werden kann. Wir können sagen, dass diese Experimente eine synergische Wirkung oder Verschmelzung von Kognition (Erkenntnis) und Konation (Wollen) zeigen. Es sind dies Situationen in denen unsere Impulse uns in eine weise Richtung leiten. Dies trifft ebenfalls auf CANNONs Konzept der Homöostase zu, die er die 'Weisheit' des Körpers nannte (MASLOW 1971, 210). (Übersetzungen d. Verf.) Die Synergie eines Individuums könnte sehr wohl mit der Synergie einer Gesellschaftsform zusammenhängen, was annehmlich gemacht wird durch vergleichende Untersuchungen (Ruth BENEDICT) über hohe und niedrige Synergie in 'primitiven' Gesellschaften und in unserer Gesellschaft. MASLOW verbrachte längere Zeit mit anthropologischen Studien bei den Schwarzfuss-Idianern. Und hier scheint ein weiterer Hinweis auf die Beobachtungen von Jean LIEDLOFF (1982) angebracht, die eindrücklich beschreibt, wie Amazonas-Indianer ihr Dasein anscheinend nicht als Trübsal empfinden, trotz harten Lebensbedingungen. Die Indianerkinder waren willkommene Geschöpfe und durften sich auf eine uns unbekannte Art frei innerhalb der Gemeinschaft entwickeln. Zu den theoretischen Grundlagen gehören ebenfalls die Anforderungen, die MASLOW an die Wissenschaftlichkeit und Methodik stellt. Er lenkt die Aufmerksamkeit z.B. auf eine unerwünschte Ausrichtung der Wissenschaft auf technische Mittel, obwohl eine Inangriffnahme von Problemen wichtiger sei: "Die Konzentration auf die Mittel läuft auf die Tendenz hinaus, eine Hierarchie der Wissenschaften zu schaffen, in der, ziemlich schädlich, die Physik für >wissenschaftlicher< gehalten wird als die Biologie, die Biologie für wissenschaftlicher als die Psychologie und die Psychologie als wissenschaftlicher als die Soziologie. Solch eine Annahme hierarchischer Gliederung ist nur auf der Grundlage von Eleganz, Erfolg und Verfahrensgenauigkeit möglich. Vom Standpunkt einer problemorientierten Wissenschaft würde niemals eine solche Hierarchie vorgeschlagen, denn wer könnte schon behaupten, dass Fragen über Arbeitslosigkeit, Rassenvorurteile, Liebe in irgendeiner immanenten Art und Weise weniger wichtig sind als Fragen über Sterne oder Sodium oder Nierenfunktionen?" MASLOW 1970, 13, Kap. 3, Übers. 1984, 40; vgl. MASLOW 1970, 1ff: A Psychological Approach to Science). 5.3 Das Modell der Selbstaktualisierung MASLOW (1981, 62ff) versuchte, "... eine positive Theorie der Motivation zu formulieren, die den (...) theoretischen Anforderungen genügt und zugleich den bekannten klinischen wie auch experimentellen und beobachteten Tatsachen entspricht. Sie leitet sich jedoch am direktesten von der klinischen Erfahrung ab." MASLOW glaubte, eine ideale Selbstverwirklichung bei einigen wenigen Idividuen beobachtet zu haben und hat sie daraufhin systematisch untersucht. Um zu erklären, warum seelische Gesundheit relativ selten auftaucht und nur bei etwa einem Prozent der Menschen zu beobachten ist, entwirft er eine hierarchische Theorie der Motivation. MASLOW unterscheidet zwischen Grundbedürfnissen, deren unbefriedigter Zustand die Mangelmotivation ausmacht, und Wachstumsbedürfnissen, die eine Selbstverwirklichung erst ermöglichen. Allerdings kommen die Wachstumsbedürfnisse nur dann zur Geltung, wenn die Grundbedürfnisse erfüllt sind. Seelische Krankheit geht auf unerfüllte Grundbedürfnisse zurück, seelische Anpassung auf erfüllte Grundbedürfnisse und die seelische Gesundheit auf erfüllte Wachstumsbedürfnisse. Während die meisten Menschen ihr Leben lang damit beschäftigt sind, ihre Verluste auszugleichen, kommen einige über die Sorge vor dem Verlust hinaus und gelangen zu der Freiheit, sich etwas zum Ziel zu setzen, das sie erfüllt. Das Entscheidende an der Selbstverwirklichung ist nicht das Produkt, sondern der Prozess und das Erleben. Dieser Prozess ist durch Flexibilität, Ganzheit und Erfülltheit gekennzeichnet. Die kreativen Leistungen sind dabei eher Randerscheinungen. Sich selbst verwirklichende Menschen widmen sich Aufgaben, die sie für wichtig erachten; deshalb verwischt sich bei ihnen die Unterscheidung zwischen Arbeit und Spiel. Sie vereinigen Selbstbezogenheit und Selbstlosigkeit, verfügen vor allem über grosse Unabhängigkeit, und sie können Fehler zugeben. Sie zeichnen sich also durch Offenheit und Bescheidenheit aus. Ausserdem sind sie mutig, flexibel und spontan. Die meisten von ihnen sind in irgendeiner Form zumindest in dem Sinne religiös, dass sie einen tiefen Respekt vor den Menschen und der Natur haben. Menschen, die sich selbst verwirklichen, können lange allein bleiben, haben dauerhafte Freundschaften und Partnerbeziehungen und verstehen es, zu geniessen, ohne süchtig zu sein. Sie sind nicht ohne Probleme, zeichnen sich aber durch weniger Schmerz und dafür mehr Freude und Glück aus. Als Beispiele für Menschen, denen es gelungen ist, sich in der beschriebenen Art selbst zu verwirklichen, nennt MASLOW Abraham LINCOLN und Albert EINSTEIN. Aber auch Menschen, die nicht durch besondere Leistungen bekannt wurden, gesteht MASLOW die Fähigkeit zur kreativen Selbstverwirklichung zu. Das Modell lässt sich wie folgt in Stichwörtern zusammenfassen: Voraussetzungen zur Erfüllung der Grundbedürfnisse sind: Freiheit, Gerechtigkeit, Geordnetheit und Stimulation. Die physiologischen Grundbedürfnisse sind: Luft, Wasser, Nahrung, Unterkunft, Schlaf, Sex. Die psychologischen Grundbedürfnisse sind: Selbstachtung, Achtung vor dem anderen, Geachtet-Werden, Liebe, Zugehörigkeit, Sicherheit, Die Wachstumsbedürfnisse, die zur Selbstverwirklichung führen, sind: Sinnhaftigkeit, Selbstgenügsamkeit, Mühelosigkeit, Verspieltheit, Reichhaltigkeit, Einfachheit, Ordnung, Gerechtigkeit, Lebendigkeit, Schönheit, Güte, Wahrhaftigkeit. Menschen, die sich selbst verwirklichen, machen gelegentlich sogenannte Grenzerfahrungen, die ihnen eine besondere Form der Erkenntnis vermitteln. MASLOW unterscheidet hier zwischen Defiziterkenntnis und Seinserkenntnis. Die Defiziterkenntnis strebt nach Lösungen, die Seinserkenntnis dagegen nach umfassendem Begreifen. Die Seinserkenntnis absorbiert die ganze Aufmerksamkeit, sie richtet sich auf eine ganzheitliche Erfahrung des Objekts, zunächst gelöst von allen Erwägungen der Nützlichkeit. Die Dinge werden daher auch ohne Bezug auf menschliche Belange gesehen. Diese Art Grenzerfahrung wird als innerer Wert wahrgenommen, der den Augenblick rechtfertigt und Selbstbestätigung bietet. Grenzerfahrungen sind von dem subjektiven Gefühl der Ehrfurcht und des Wunders begleitet. Die Genzerfahrung vermittelt ein >ozeanisches< Gefühl des Verständnisses für die Welt, sie klassifiziert nicht, sondern betrachtet das Ereignis als einzigartig und dennoch aussagekräftig für die Allgemeinheit. Es fehlen Momente der Furcht, Abwehr und Kontrolle. Eine gemeinsame Grenzerfahrung nennt MASLOW die Liebe, die nicht aus dem Bedürfnis heraus entsteht, sich etwas von dem anderen zu nehmen, sondern ihm zu geben. Dies stimmt mit FROMMs Definition der nichtneurotischen Liebe überein, die nicht im Haben, sondern im Sein besteht. Diese Art von Liebe setzt Selbstachtung genauso voraus wie die Achtung des andern, und Selbstbezogenheit ebenso wie die Beziehung zum Partner. Selbstverwirklichung ist möglich, wenn das Individuum frei von Krankheit ist, seine Grundbedürfnisse erfüllt hat, seine Fähigkeiten nutzt und Werte anstrebt. (Diese Zusammenfassung wichtiger Elemente von MASLOWs Theorie basiert teilweise auf "Der schöpferische Mensch: Beispiel für die Fähigkeit zur Selbstverwirklichung", in STALMAN 1982, 264ff.)
6. Die Theorien von KEGAN und MASLOW im Vergleich 6.1 Allgemeine Bemerkungen zu psychologischen Theorien In "Theories and Models of Personality" nennt CARTWRIGHT (1979, 136ff, Übers. d. Verf.). vier wichtige Kriteria für die Beurteilung von wissenschaftlichen Theorien: Die Genauigkeit (accuracy), die Erklärungstragweite (power), die Verständnistiefe (depth of insight) und die Fruchtbarkeit (fruitfulness). Die Kriteria können sowohl von "weichen" als von "harten" Theorien erfüllt werden, wobei unter "harten" Theorien solche verstanden werden könnten, die sich vorwiegend auf Testdaten berufen. In "Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft" vertritt Josef WEIZENBAUM die Ansicht, dass man beim vorläufigen Handeln nach einer Theorie oder beim Versuch, eine Theorie zu beweisen, diejenige wählen soll, die am wenigsten Schaden verursacht (haben würde), wenn die Theorie sich als falsch erweist (WEIZENBAUM 1977, 342). Bei technischen Fragestellungen (Umweltschutz) wird ein solches Vorgehen weitere Schäden verhüten. Es bleibt zu untersuchen, ob dieser Grundsatz uns auch bei der Betrachtung von Persönlichkeitstheorien weiterbringen könnte. Desmond CARTWRIGHT (1979, 3–25) beginnt sein "Theories and Models of Personality" mit dem Modell von MASLOW, was auf einen gewissen Stellenwert der MASLOWschen Theorie bei ihm schliessen lässt. James GEIWITZ (1969, 3–4) dagegen schreibt in der Einführung zu seinem "non-freudian personality theories": "MASLOW's theory, which has yet to attain the research potential of other theories, was excluded" (MASLOWs Theorie, welche den Untersuchungsumfang von anderen Theorien noch erreichen muss, wurde ausgeschlossen) (Übers. d. Verf.). Die entgegengesetzten Auffassungen zeigen, wie 'persönlich' die Wissenschaft der Persönlichkeitsentwicklung sein kann. Mir scheint die Tiefe der psychologischen Einsicht, die eine Theorie vermittelt, und die damit verbundenen praktischen Auswirkungen auf die Daseinsgestaltung von grosser Wichtigkeit zu sein. KEGAN (1986, 280-281) vertritt eine ähnliche Auffassung im Kapitel "Wachstum und Verlust des zwischenmenschlichen Selbst": "Eine gute psychologische Theorie muss verhindern helfen, dass die ungünstige Position der benachteiligten Mitglieder einer Kultur durch eine Psychologie aufrechterhalten wird, die, ohne es zu wissen, in die Hände der Priviligierten arbeitet." Allerdings sind wir in eine "verdeckte Ideologie eingebettet". "Die verschiedenen Wirkungsweisen der Ideologie – die uns zum Beispiel ein Erklärungssystem liefert, an dem zwischenmenschliche Beziehungen ausgerichtet werden; die dem täglichen Leben eine politische Dimension verleiht; die uns ein Gefühl der Kontrolle über die Gegenwart vermittelt, ein Verständnis unseres eigenen Beitrags an den Schwierigkeiten unserer Vergangenheit sowie ein Programm für die Zukunft; die zwischen der Gruppe, zu der wir gehören, und anderen Gruppen, zu denen wir nicht gehören, Trennlinien zieht und aufrechterhält – sind alle Ausdruck einer grundsätzlich neuen Gleichgewichtsstufe, auf der das Selbst zu einer Organisation oder Institution geworden ist, in der seine Teile seine Öffentlichkeit bilden und für die die erfolgreiche Aufrechterhaltung und Kontrolle des inneren Systems endgültiges Ziel ist. Die amerikanische Kultur bietet solch ideologische Unterstützung ganz selbstverständlich all denjenigen, die von ihr als Mitglieder der sozialen und psychologischen Institutionen, die die herrschende Ordnung aufrechterhalten, bevorzugt und auserwählt werden. In der Regel handelt es sich bei dieser bevorzugten Gruppe um weisse Männer der Mittelschicht." Die Ideologie ist in die Kultur eingebettet, und eben deshalb "... ist die verdeckte Ideologie so machtvoll und heimtückisch für diejenigen, die von ihr ausgeschlossen sind." Im Kapitel "Wachstum und Verlust des institutionellen Selbst" zitiert KEGAN (1986, 318ff) den amerikanischen Organisationspsychologen William TORBERT in bezug auf eine mögliche über das institutionelle Gleichgewicht hinausführende Entwicklung von Organisationen. KEGAN meint, dass ein Wandel der Organisationen, wie TORBERT vorschlägt, "... sowohl den Übergang zu dialektischen Strukturen, die Bassechets et al. beschreiben, widerspiegelt, als auch den persönlichen Wechsel von ideologischen zu systemübergreifenden Strukturen (vom institutionellen zum überindividuellen Gleichgewicht),....". Angesichts dieser kritischen Anmerkungen KEGANs sind diesbezügliche Hinweise auf die eindrücklichen und in klarer Sprache verfassten Worte von FROMM und WEIZENBAUM fast überflüssig. "Das moderne Industriesystem des zwanzigsten Jahrhunderts schuf den Menschen der Organisation", schrieb FROMM im Aufsatz "Der revolutionäre Charakter" (in: FROMM, 1965, Das Christusdogma und andere Essays). "Der Mensch der Organisation verweigert den Gehorsam nicht; er weiss ja überhaupt nicht, dass er gehorcht. Er ist nichts weiter als einer von den >Jungs<, einer aus der Masse. Er denkt und tut das, was >vernünftig< ist - auch wenn es ihm und seinen Kindern und Enkeln das Leben kostet" (FROMM, 1965, 149). WEIZENBAUM (1977, 301ff) beschreibt in den Kapiteln "9. Unverständliche Programme" und "10. Gegen den Imperialismus der instrumentellen Vernunft", wie Führer und Wissenschaftler sich im Dienste von Systemen und Organisationen zunehmend verstricken können, bis sie schlussendlich Arbeiten machen, die sie selber ethisch ablehnen. (Das Tagesgeschehen in dieser ersten Juniwoche überholt mich beim Schreiben des obigen Abschnitts: Die Herrscher in China setzen die Volksbefreiungsarmee gegen das eigene Volk in Peking ein und richten ein Blutbad unter friedlich Demonstrierenden an, um die Ordnung zu bewahren. Mir brannten die Tränen in den Augen.) Die meisten Theorien scheinen eine vorgeburtliche Psychologie auszuklammern. Abraham MASLOW (1971, 169) schrieb allerdings mit Bezug auf seine eigenen Kinder einmal: "Ein zweites Kind haben und erfahren wie tiefgehend unterschiedlich Menschen sogar vor der Geburt sind ... " (Übers. d. Verf.). Gil NOAM und Robert KEGAN (1982, 428) meinen dagegen: "In allen Entwicklungstheorien gilt der Säugling als >undifferenziert<, und das heisst im Wesentlichen, dass es keine Grenze zwischen Selbst und Anderen gibt (daher Nullstadium und nicht erste Stufe)". (Siehe auch die Tabelle auf Seite 17.) Laut Dieter BÜRGIN (1982, Über einige Aspekte der pränatalen Entwicklung) kann das Neugeborene von der ersten Stunde an aktiv und interaktiv mit der Welt kommunizieren. Es kann Mittelwerte machen, Schlüsse ziehen und Erfahrungen übertragen. So kann z.B. eine Tonabfolge zu einer Handlungsabfolge führen. Die vorgeburtliche Entwicklung von Reflexen, Sinnesorganen und Motorik ist bereits ab der 8. Woche nachweisbar. Etwa ab der 24. Woche kann das Ungeborene hören, schmecken, Druck, Schmerz und Kälte empfinden. Ab der 20. Woche hat es Ruhe- und Aktivitätsphasen und ab der 37. Woche Schlaf- und Wachrhythmen. Sensitive Mütter berichten von einem "pränatalen Dialog" mit ihrem Kind. Diese phänomenologischen Erkenntnisse könnten zur Ansicht führen, dass die "Bedeutungsentwicklung" (KEGAN 1986, 121) oder das "intrinsische Lernen" (MASLOW 1971, 170) bereits vor der Geburt anfängt. Wie KEGAN bei seiner Verarbeitung der Theorien von Kohlberg und in der Beschreibung seiner Entwicklungsstufe der Überindividualität bereits zeigte, sind psychologische und philosophische Anschauungen und Theorien in gewisser Hinsicht mit religiösem Glauben verwoben. In diesem Zusammenhang ist vielleicht die Aufstellung von Klaus WEGENAST (Bern: Handschrift 1988) interessant:
Entwicklung des religiösen Entwicklung des moralischen Stufen des Glaubens Denkens (nach OSER) Urteils (nach BEELI) (nach FOWLER) Definition: religiöses Urteil Definition: moralisches Urteil Definition: faith is the = Regelsystem, welches das = Rechtfertigungsverhalten in knowing by which persons Verhältnis des Individuums oder nach einer Konflikt- apprehend themselves as zurTotalität (Gottesvor- situation. related to the transcendent. stellung) überprüft. Ursprüngl. Glaube: (Säugling) Vorsprachliche Stimmung von Vertrauen Þ kompensiert Trennungsängste 1. Orientierung an absoluter Heteronomie Autorität-Lohn-Strafe Intuitiv-projektiver Glaube Der Mensch ist vom Ultimaten (vorsoziale Ebene) (Kleinkind) als eine fordernde Macht Was ist richtig? Das was Die Phantasie, angeregt einseitig bestimmt. Dieses die Autorität sagt. durch Geschichten, Symbole Ultimate ist unerreichbar, (analog OSER) und Gesten, schafft zusam- unerforschlich. Abhängigkeit men mit Wahrnehmung und auf Willkürebene z.B. Gott als Gefühlen langlebige Leitbilder. deus ex machina. Lohn-Strafe- Diese repräsentieren die Zusammenhang: Strafvermei- beschützenden und bedrohenden dung als Antrieb zum guten Lebensmächte. (= gottgemässen) Handeln. Absenz der Logik
2. Orientierung an 'do et des' Bedürfnis-Interesse Mythisch-wortgetreuer Glaube Unmittelbare Determination (vorsoziale Ebene) (Kindheit und frühe Jugend) aber auch gegenseitige Loya- Befolgte Regeln müssen Die Entwicklung des logischen lität: Abhängigkeitsverhältnis klar dem eigenen Interesse Denkens hilft, die erlebte Welt auf Vertragsebene: Möglich- dienen. Richtig ist, was nach Kausalität, Raum + Zeit zu keit des Menschen aktiv zu fair ist, was auf Gegen- ordnen. Erstes Fremdverstehen werden z.B. durch Präventiv- seitigkeit beruht. und Bedeutung von Geschichten handlungen Sanktionsmilde- für das eigene Leben erkennen. rungen zu erwirken. Artikula- "11jähriger Atheist": wenn tion von subjektiven Bedürf- Gott so etwas zulässt, dann nissen durch Gebet, Reue, glaube ich nicht an ihn. Buss- und Ersatzhandlungen.
3. Orientierung an Synthetisch- Selbstbestimmung Gut sein konventioneller Glaube Absolute Differenz zwischen (soziale Ebene) (Jugend) Ultimatem und Menschen, Richtig ist, den Erwartungen Neue kognitive Fähigkeiten heilig und profan. Nichtüber- zu entsprechen. Zwischen- ermöglichen es, andere Sicht- ragbarkeit der eigenen Ent- menschliche Beziehungen weisen zu übernehmen und scheidungen. Die Freisetzung gewinnen an Bedeutung, das zwingen dazu, unterschiedliche des Subjekts von den hetero- "Du/Wir" neben dem "Ich". Selbstvorstellungen zu einer nomen Bestimmungen wird Handlungen werden vermehrt 'neuen' Identität zusammenzu- als Konflikt mit den herr- auf andere ausgerichtet. fassen. Eine persönliche und schenden Plausibilitäten er- grösstenteils unreflektierte fahren. Die Sinnbestimmung Synthese von Werten und Über- durch die Totalität bleibt zeugungen entsteht, um die letzlich unbestimmt. Identität zu stützen und den Das reine"DASS" Gottes Einzelnen in einem Gefühl der 4. Orientierung an Individualisierend- Autonomie und Heilsplan Soziales Sytem Gesetz reflektiver Glaube Gott als Grund von Geschaf- (soziale Ebene) (frühes Erwachsenenalter fenem. Er ist nicht direkt Soziale Verpflichtungen, + später) geschichtswirksam. Der Gesetze, Rechte, die die Ge- Kritische Reflexion der eigenen Mensch hat begrenztes sellschaft schützen, werden Überzeugungen. Verständnis autonomes Bewusstsein Þ als sehr positiv angesehen, von sich selbst als Teil einesEntzscheidungsfähigkeit. da sie das Funktionieren der sozialen Systems. Übernahme Er handelt innerhalb eines Sozietät gewährleisten. der Verantwortung für die für Heilsplanes, in dem Gott Wahl von Ideologien/Lebens- der Garant des Guten ist. stilenI Þ öffnet den Weg für= Glaubensaussage, nicht Bindungen in Beziehungen logisch verfügbar. und Beruf
5. Orientierung an Intersubjektivität Individuelle Rechte Verbindender Glaube Gott/die absolute Freiheit (nachsoziale Ebene) (mittleres Lebensalter) ermöglicht endliche Freiheit, Werte/Meinungen sind Bedürfnis nach verschiedenen die sich im Zwischenmensch- relativ, sind Prinzipien, Interpretationen von Wirklich- lichen manfestiert. nicht Gesetze. Menschliche keit. Bedürfnis Paradoxien zu Unbedingte Anerkennung der Grundrechte wie Leben/ integrieren statt zu eliminie- Freiheit des Anderen = Freiheit stehen über den ren. Mythen werden erneut Sinneserfahrung. Gesetzen. geschätzt um Wahrheiten zu fassen. 6. Orientierung an universeller Kommuni- kation und Solidarität Indiviuduelle Prinzipien Allumfassender Glaube Universeller Anspruch der (nachsoziale Ebene) Über die Paradoxien hinaus Kommunikativen Praxis mit Befolgen selbstgewählter, wurzelt der Mensch in der Gott, vermittelt durch inter- ethischen Prinzipien, die Einheit mit der Macht des subjektives Verhalten. universal gültig sind, z.B. Seins. Er ist befreit zu Das Gott-Menschverhältnis Menschenrechte. einer leidenschaftlichen ist nicht nur Grund und Ziel Stufe 6 ist rein theoretisch. Hingabe des Selbst in Liebe, meiner Existenz, sondern die dem Sieg über Zwietracht Geschichte/Wirklichkeit und Brutalität gewidmet ist. überhaupt. 6.2 KEGANs Konstruktions-und-Entwicklungstheorie KEGAN hat "Die Entwicklungsstufen des Selbst" als "Lehrer, Therapeut, Forscher und Theoretiker" (KEGAN 1986, 12) geschrieben. Das Buch bringt viele anschauliche, vorwiegend klinische Praxisbeispiele, wobei auffällt, dass die Knaben und Männer in den Beispielen oft ihre nächste Stufe erreichen, die Mädchen und Frauen öfter nicht. KEGAN (1986, 275ff, 281) zeigt sich trotzdem sehr aufgeschlossen und spricht sich aus für ein gesundes Gleichgewicht zwischen Frauen und Männern. Auch KEGANs gesellschaftskritische Äusserungen sind beachtenswert. Könnte KEGAN als "Theoretiker" trotzdem in der "Zwangsjacke" der eigenen Theorie "eingebunden" sein? Das Beispiel "Terry", das im Buch mehrmals aufgegriffen wird, mag diese Gefahr veranschaulichen: Die fünfzehnjährige Terry war von ihrer Mutter in die psychiatrische Klinik in eine >Freiwilligen<-Station eingewiesen worden, weil die Eltern sich nicht mehr zu helfen wussten. Terry schwänzte die Schule, wurde von der Mutter zur Rede gestellt und wollte daraufhin ausreissen. Nach einer siebenstündigen Verfolgungsjagd, an der Mutter, Verwandte und schliesslich auch die Polizei teilnahmen, wurde sie gefasst. Die Mutter beschreibt ihre Tochter als intelligent, selbstbezogen, narzisstisch und manipulativ. Terry beschreibt ihre Mutter als streng, stark, stur, nörglerisch, kompromisslos und eigensinnig (KEGAN 1986, 109). Terry sagte: "Meine Probleme sind nicht psychischer Natur; sie hängen damit zusammen, dass ich mich nicht mit meiner Familie verstehe" (KEGAN 1986, 109). KEGAN meint dazu, ganz in der Struktur seiner Theorie: "Die Grenzen von Terrys Organisationsform machen es ihr unmöglich, >den anderen< zu verinnerlichen oder in ihrer Vorstellung festzuhalten..." (KEGAN 1986, 239) und "Trotz ihres hohen IQs glich Terrys >Psychologik<, der Stand ihrer Bedeutungsbildung, eher der Form, die wir bei drei oder vier Jahre jüngeren Jugendlichen finden" (KEGAN 1986, 237), sowie: "Schliesslich drängt sich die Frage auf, ob eine Behandlungsmethode für Terry, die genau die Fähigkeit voraussetzt (Mitglied einer zwischenmenschlichen Gemeinschaft zu sein), die eigentlich das Ziel ihres gegenwärtigen Entwicklungsabschnittes ist, letzten Endes nicht ungewollt eine Grausamkeit darstellt." Die Grausamkeit liegt vielleicht eher darin, dass Terrys Fähigkeiten angezweifelt werden, dass sie in ein Schema eingepasst werden soll, dass man ihre eigenen Worte und damit ihre Person nicht ernst nimmt. In der Stufentherorie wird Terry so zu einem isolierten Objekt, das behandelt werden soll oder seine nächste Stufe erreichen muss, damit sie Einsicht zeigen und sich ändern kann. Aber jede Person, in jedem Alter und in jeder Situation ist doch bereits Mitglied der menschlichen Gemeinschaft. Eine "zwischenmenschliche" Gemeinschaft wirkt grundsätzlich in beiden Richtungen und bedeutet also nicht, dass Terry sich einseitig ändern muss. Der Anteil der Mutter an den Problemen Terrys wird vollständig übergangen. Terry als Mitglied der Gemeinschaft ernstzunehmen, würde bedeuten, auf ihre Aussage einzugehen und Terry mit ihrer Familie als Ganzes, systemisch, anzuschauen. Das Beispiel "Terry" zeigt, wozu es führen kann, wenn Gegebenheiten im Rahmen einer Theorie erklärt werden. Strukturen werden gebraucht. Eine Theorie kann hilfreich sein. KEGAN (1986, 299) erwähnt eine Untersuchung von GILLIGAN und MURPHY, wobei Erwachsene sich bei der Lösung moralischer Probleme zu fragen beginnen, "ob man tatsächlich verallgemeinerbare Regeln konstruieren sollte, die, auch wenn sie innerlich stimmig sind, die Besonderheiten der von ihnen geregelten Einzelfälle in gefährlicher Weise übergehen. KEGAN (1986, 375) stellt auch die "Frage nach den Zielen" einer Therapie. Soll man sich orientieren an den ">Normen der Gesundheit<", hinter denen die "Autorität der Psychiatrie steht", an ">humanistischer Normlosigkeit<", mit der dahinterstehenden "Autorität des ethischen Relativismus" oder an ">Normen des Wachstums<", die auf die Konstruktions-und-Entwicklungstheorie zurückgehen und hinter denen die "Autorität einer natürlichen Philosophie" steht? Man kann KEGAN (1986, 375) beipflichten, wenn er schreibt, dass die Auffassungen der traditionellen Klinikpsychiatrie und des Humanismus "... beide doch Ziele vorgeben, die letztlich auf das zurückgehen, was irgendeine Gruppe von Menschen für gut hält." Das trifft jedoch ebenso für die natürliche Philosophie zu. Sind wir nicht alle in unsere Kultur eingebettet und in unseren Glauben , dass wir wachsen müssen und Erlösung brauchen, eingebunden? 6.3 MASLOWs Selbstaktualisierungstheorie MASLOWs Ausgangslage könnte man damit kurz zum Ausdruck bringen, dass wir uns entwickeln dürfen, ebenfalls mit der Natur als Grundlage. Er bezieht sich auf eine sehr enge Auswahl von 'Gesunden', von historischen Personen, die sich seiner Meinung nach selbstverwirklicht haben. Auch die klinischen Untersuchungen führte er an einer Recht engen Auswahl der Bevölkerung durch, nämlich im akademischen Bereich. (Diese eingeschränkte Auswahl wird in den Sozialwissenschaften oft angetroffen. Darauf basierende Verallgemeinerungen dürfen hinterfragt werden, wenn man bedenkt, dass in der Schweiz z.B. ungefähr 8 Prozent der Schulabgänger ein Hochschulstudium machen.) Die Auswirkung auf das tägliche Leben geht indirekt aus verschieden Äusserungen MASLOWs hervor: "Die Untersuchung der Selbstverwirklichung widerlegt die Freudsche These, dass das menschliche Unbewusste schlecht, böse oder gefährlich ist. Bei Menschen, die sich selbst verwirklichen, ist das Unbewusste kreativ, liebevoll, positiv und gesund" (zitiert nach STALMAN 1982, 267). Die humanistische Psychologie strebt eine Utopie an, die MASLOW Eupsychia nennt. In ihr soll die Umwelt so geschaffen sein, dass sich das Positive im Menschen entwickeln kann, das heisst, dass er wachsen und sich verwirklichen kann.
7. Synthese und Ausblick Gemessen an dem Aspekt der Auswirkung auf die Daseinsgestaltung bietet KEGANs Modell den Menschen eine Art väterlichen Halt in einer Entwicklungsstruktur, eine Eingebundenheit in eine verstehende Gemeinschaft. MASLOWs instinktoide Bedürfnisse bieten ein Modell für die Entwicklung, wo die Eltern und die Gemeinschaft eher da sind als Widerstand im richtigen Moment und weniger als Autorität. Die kritischen Auseinandersetzungen mit KEGANs "Entwicklungsstufen des Selbst" nehmen einen weit grösseren Platz ein als die Betrachtung von MASLOWS Theorien. Es mag sein, dass ich hier in meinen persönlichen Bewertungen von kognitivistischen und humanistischen Theorien "eingebunden" bin. Wenn man absieht von den äusseren Strukturen der Arbeiten von KEGAN und MASLOW, kann dahinter eine Gemeinsamkeit der Aufassungen in der praktischen Anwendung ihrer Theorien gefunden werden. Beide äussern sich manchmal in fast gleichen Wörtern und Begriffen zu den 'humanen' Notwendigkeiten, wie Intimität, Nähe, Wärme, Liebe, Unterstützung, Gemeinschaft und Freiheit. Eine weitergehende Analyse soll hier jedoch nicht angestrebt werden. Robert KEGAN und Abraham MASLOW begegnen sich dort am innigsten, wo ihre Haltung Liebe ausstrahlt und sie dem Menschen den Freiraum in der Gemeinschaft zutrauen, der eine gesunde Entfaltung und Entwicklung erlaubt. Ein Symbol dafür, auf der Titelseite, entstammt KEGANs "Sweeter Welcome".
8. Literaturliste ADLER, A. (1939) Social Interest. New York: Putnam. ALLPORT, G. (1955) Pattern and Growth in Personality. New York: Rinehart and Winston. ANGYAL, A. (1965) Neurosis and treatment: a holistic theory. New York: Wiley. BEELI, B. (1980) Entwicklung des moralischen Urteils. Zeitschrift für Religionsunterricht und Lebenskunde, .........., ......... . BELLOW, S. (1965) The adventures of Augie March. New York: Crest. BENEDICT, R. (1970) Synergy: Patterns of the good culture. American Anthroplogist, 72, 323-333. BONIN, W. F. (Hrsg.) (1983) Handlexikon Die grossen Psychologen. München: Econ. BINSWANGER, L. (1963) Being-in-the-world. New York: Basic Books (Deutsch: Grundformen und Erkenntnis des menschlichen Daseins. Zürich,1942). BUBER, M. (1958) Hasidism and the Modern Man. New York: Horizon Press. BÜRGIN, G. (1982) Über einige Aspekte der pränatalen Entwicklung. In: Nissen G. (Hrsg.) Psychiatrie des Säuglings- und des frühen Kleinkindalters. Bern: Hans Huber. 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9. Bildnachweis Titelbild Titelseite von "The Sweeter Welcome" (KEGAN 1976). KEGAN Rückseite von "Die Entwicklungsstufen des Selbst" (KEGAN 1986).
MASLOW Handlexikon "Die grossen Psychologen" von Werner BONIN (1983, 120).
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