(Quelle: http://www.nzz.ch/2007/03/04/il/articleez30m_1.122093.html
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4. März 2007 02:05, NZZ Online
Vom Waldsterben zum Klimawandel
Vor einem Vierteljahrhundert warnten Wissenschafter und Politiker grimmig vor dem "Waldsterben" und predigten den Wohlstandsgesellschaften Konsumverzicht. Diese Empfehlung hat sich nicht durchsetzen können. Erst heute, da im Kampf gegen den "Klimawandel" auch Geld verdient und dem Problem sportlich begegnet werden kann, wird Umweltschutz ein Massentrend, schreibt Jost Auf der Maur
Im Februar 2007 blühen Osterglocken und Krokusse, auf den Sonnenterrassen sitzen Menschen beim Mittagessen. Es ist ein Genuss. Am 2. Februar ist in Paris der Auszug aus dem neuen Uno- Bericht zum Klima erschienen. In dem gut 20-seitigen Papier heisst es, der Mensch - daran gebe es kaum mehr Zweifel - erwärme mit seinem Werken und Wirken das Klima rund um den Erdball.
Da sitzen wir nun auf der Terrasse beim Mittagessen und fühlen uns intrigiert. Das zeitliche Zusammentreffen von frühlingshaftem Winterwetter und Klimabericht genügt, um einen vermeintlichen Zusammenhang zu suggerieren - obwohl der Verstand einem sogleich sagt, dass Ursache und Wirkung in dem komplexen Weltklima so nahe und drastisch nicht beisammen liegen können. Aber wir können feststellen: Mit "Klimawandel" ist ein Begriff dabei, den Status allgemeiner Geläufigkeit zu erreichen.
Das weckt Erinnerungen an die Zeit vor einem Vierteljahrhundert. Auch damals kam ein neues Wort in Gebrauch, eines von sinisterem Klang - das "Waldsterben". Doch die Stimmungslage zu Beginn der achtziger Jahre ist - obschon das Bedrohliche der Szenarien ähnlich - keineswegs vergleichbar mit jener im Jahr 2007. Woraus erwuchs denn damals das Grimmige in der Diskussion? Und warum wirkt die Situation heute geradezu entspannt?
Ein Blick zurück: Die zwei Jahrzehnte zwischen 1950 und 1970 gehören dem schieren Wachstum und der Demokratisierung des Wohlstands. Der Faktor Neid verliert im politischen Kräftespiel Bedeutung, die Reise ins Ferienparadies am Meer bekommt Platz im Budget der Grundschicht. Die Menge des Abfalls wächst schneller als die Bevölkerung. Es wird Zeit für neue Begriffe: In Konjunktur kommen holperige Wörter mitsamt ihren Kürzeln, Wörter wie "Abwasserreinigungsanlage" (ARA) oder "Kehrichtverbrennungsanlage" (KVA). Jeder Dorfpolitiker meint sie hersagen können zu müssen. Und alle wissen daher, dass es so wie bis anhin nicht weitergehen darf.
In diese zwei Jahrzehnte zwischen ungestümem Wachstum und Kaltem Krieg fällt auch die Ergründung extraterrestrischen Raums. Das ist weit mehr als ein episodenhafter Auswuchs der Technik: 1959 funkt aus dem All der Satellit Explorer 6 die erste Aufnahme der Erde. Wie anrührend, erstmals diese kugelrunde Heimat von aussen zu sehen, eine Heimat auf Gedeih und Verderb. "Der Blaue Planet" wirkt einzigartig, einladend und verletzlich zugleich, und das Bild selbst steht für das 20. Jahrhundert wie kaum ein anderes. Bilder bewegen, und diese sinnliche Wahrnehmung, dass der Globus eine Biosphäre mit Grenzen ist, hat die emotionale Beziehung zur Erde geprägt. Es ist denkbar, dass das Bild der Erde eine moralische Aufrüstung entfacht hat, die in romantische Vorstellungen, ökologische Forderungen oder politische Aktion mündet.
International jedenfalls folgen in den siebziger Jahren die grossen Konferenzen der Uno über Umwelt (1972), Bevölkerung und Nahrungsmittel (1974), Siedlungsfragen (1976) oder Wasser und Wüsten (1977). Am 23. Mai 1977 erlässt der US-amerikanische Präsident Jimmy Carter in einer Botschaft an den Kongress die Direktive, eine "Untersuchung über die voraussichtlichen Veränderungen der Bevölkerung, der natürlichen Ressourcen und der Umwelt auf der Erde bis zum Ende dieses Jahrhunderts durchzuführen".
Das US-Gouvernement (inklusive CIA) legt nach drei Jahren ein 1500 Seiten starkes Werk vor: "Global 2000 - der Bericht an den Präsidenten". Darin steht der Satz: "Wichtig ist ein besseres Verständnis und ein wirkungsvolles Handeln angesichts globaler Probleme wie etwa der Anreicherung der Atmosphäre mit Kohlendioxid." Und im Begleitbrief an den Präsidenten heisst es dann: "Es muss eine neue Ära der globalen Zusammenarbeit und gegenseitigen Verpflichtung beginnen, wie sie in der Geschichte ohne Beispiel ist."
"Global 2000" war zwar bald einmal seiner düsteren Prognosen wegen verschrien. Carter-Nachfolger und Optimist Ronald Reagan liess das dreibändige Werk und vor allem den Forderungskatalog "Global Future: Time to Act" aus seinem Blickfeld räumen. Aber da "Global 2000" der erste Versuch einer US-Regierung war, Bevölkerung, Ressourcen und Umwelt in ihrer Wechselwirkung zueinander zu betrachten und das Ergebnis in eine globale Perspektive einzubauen, fand der Bericht in Europa besondere Beachtung.
Der Öko-Wälzer wurde mit Unterstützung der Uno sofort auf Deutsch übersetzt; eine halbe Million Exemplare sind verkauft worden. Die Nachfrage war gegeben: In Europa hatten sich in den siebziger Jahren die ökologisch orientierten Parteien zu etablieren begonnen, zuerst in England. Im Jahr 1979 sass mit dem Waadtländer Mathematiker Daniel Brélaz, dem heutigen Stadtpräsidenten Lausannes, auch der erste Grüne im Schweizer Nationalrat.
In diese Situation bricht der Begriff "Waldsterben" ein. Herbert Gruhl, der deutsche CDU-Abgeordnete, formuliert ihn als Erster im Bundestag. Sein Bestseller "Ein Planet wird geplündert - Die Schreckensbilanz unserer Politik" trifft den Geist der Zeit. Parallel dazu haben Förster in Deutschland und dann auch in der Schweiz Schäden an Bäumen entdeckt, für die sie keine eindeutige Ursache kannten. Sie sollten aber bald von wissenschaftlicher Seite eine Antwort bekommen.
Entscheidend für die steile Karriere des Begriffs "Waldsterben" ist Bernhard Ulrich. 1979 trat der damals erst 30-jährige Göttinger Professor auf den Plan, nachdem er während zehn Jahren die Waldböden rund um Göttingen nach Schwermetallen und Säuregehalt untersucht hatte. Die Ergebnisse hätten ihn ganz persönlich alarmiert, wie er 25 Jahre später feststellt: "Plötzlich geht einem die Dimension auf, das ist wie eine Schockreaktion. Und wenn das so ist, dann musst du", sagt er in einem Gespräch mit der "Zeit". Beweise hatte Ulrich keine, er schätzte die Wahrscheinlichkeit, dass seine Hypothese richtig war, auf 80 bis 85 Prozent - wenig für einen Wissenschafter. Aber da das Mögliche so bedrohlich wirkte, "musste er" eben.
Das deutsche Umweltbundesamt beauftragt Ulrich, einen Bericht zu schreiben, der alsbald in den Medien aufgeht und in der Öffentlichkeit für Beunruhigung sorgt. 1981 schreibt der deutsche "Stern": "Über allen Wipfeln ist Gift", und etwas später druckt das Magazin "Der Spiegel" eine dreiteilige Serie: "Saurer Regen über Deutschland - der Wald stirbt". Das nahm sich aus wie eine der biblischen Plagen.
B ernhard Ulrich ist dann 1982 Star-Referent an einer für die Schweizer Rezeption des Themas wichtigen Tagung am Gottlieb-Duttweiler-Institut. Gegen 300 Vertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft und Forstwesen hatten sich in Rüschlikon versammelt. Ulrich sagte damals: "Die Situation des Waldsterbens ist in der wissenschaftlichen Beurteilung vergleichbar mit der Situation beim menschlichen Krebs: Wir kennen die Belastungsraten, wir kennen die Pufferraten, wir kennen die Überlastungsraten, und wir sehen die Symptome. Die Wirkungsweise im Detail aber, die kennen wir nicht." Er sagte allerdings auch: "Die wissenschaftliche Prüfung wird Jahrzehnte in Anspruch nehmen." Die Schweizer Medien begannen sich des Themas anzunehmen.
1983 schliesslich steht Bundesrat Alphons Egli im Wald bei Zofingen und lässt sich vom Aargauer Kantonsförster Schäden an Wurzeln, Borke und Wipfeln erklären. Nach jenem Zofinger Presse-Vormittag im September gehört der Begriff "Waldsterben" quasi offiziell zum politischen Vokabular in der Schweiz.
1985 kam es zur Sondersession Waldsterben, an der unter anderem ein Haufen Geld für den Bau neuer "Walderschliessungs-Strassen" bereitgestellt wurde. Rund ein Dutzend Jahre hat der Begriff "Waldsterben" gehalten. Seither ist das Heizöl entschwefelt, Autos fahren mit Katalysatoren. Und es ist die Autopartei gegründet worden, ein skurriles, trotziges Kind seiner Zeit.
Danach kippt das "Waldsterben", das in der lateinischen Schweiz (und in Frankreich) ein deutscher Begriff geblieben ist, aus Traktanden und Schlagzeilen. Politisch war das "Waldsterben" gestorben. Der Wald stand ja noch.
Die Vorstellung, dass ganze Waldregionen zusammenbrechen könnten, war in den achtziger Jahren aber nicht einfach auszuschliessen: Die Fachleute extrapolierten ihre Daten in die nähere Zukunft. Und so kam es zu Prognosen wie jener von Bernhard Ulrich 1982 an der Tagung in Rüschlikon: "Die ersten grossen Wälder werden schon in den nächsten fünf Jahren sterben." Die Forstfachleute mochten das nicht ausschliessen. Und die Förster fühlten sich endlich ernst genommen mit ihren Warnungen.
Bundesrat Flavio Cotti spielte bereits mit dem Gedanken, die 500 000 ältesten Autos im Land verschrotten zu lassen. Von grüner Seite wurde Verzicht gepredigt. Bürgerlicherseits kam die Befürchtung auf, dass hinter dem Schild ökologischer Argumente Systemveränderer am Werk seien. Die Tatsache, dass der Eiserne Vorhang unerschütterlich dastand, verhärtete die Diskussion. Ökologie und Ökonomie schienen unvereinbar. Jede naturwissenschaftliche Äusserung wurde sofort ins politische Gefecht getragen. Die Automobilbranche bestrafte forsche Kommentierung des Waldsterbens mit Inseratesperre. Der Förster von Riehen (BS) bekam von der Gemeindebehörde einen Maulkorb und eine Busse, weil er Auskunft über den Zustand "seines" Waldes gegeben hatte. Wer andererseits nicht bereit war, das "Waldsterben" als Anlass zur inneren Umkehr und zum äusseren Verzicht zu nehmen, galt als Konsumfaschist oder Autonarr.
Heute hingegen, unter dem Eindruck der ökologischen Nachrichtenlage, wirkt die Stimmung optimistisch: Die Banken bieten mit Erfolg Öko-Fonds an. Unternehmen im Bereich erneuerbarer Energien werden beim Börsengang mehrfach überzeichnet. Ein Elektrokonzern, der in Verdacht gerät, in einem TV-Werbespot Alternativenergie lächerlich zu machen, zieht den Spot ohne Federlesens zurück. In Europa sind in der Öko-Branche mehrere 100 000 neue Arbeitsplätze entstanden. Und wer hochrechnet, was allein die dringend empfohlene Wärmeisolation der Liegenschaften der Baubranche bringen wird, ist hochgemut gestimmt. Ein Vierteljahrhundert nach dem "Waldsterben" bedingen nun Ökologie und Ökonomie einander. Nicht die Veränderung des Systems, sondern die Optimierung seiner materiellen Ressourcen wird geplant. Die Gesellschaft scheint - im zweiten Anlauf - einen von Ideologien weniger verstellten Zugang zu Lösungen zu finden. Offenbar musste zuerst der Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft vorankommen. "Wir haben ein Problem. Wir müssen es lösen. Und wir gehen sportlich ans Werk. Es gibt ja auch eine Menge zu verdienen." So könnte die Stimmung heute umschrieben werden.
Die Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft teilt übrigens in ihrem letzten Bulletin unter dem Stichwort "Waldzustand" mit: "Der Anteil der Bäume mit einer Kronenverlichtung unbekannter Ursache von mehr als 25 Prozent nahm in den achtziger und neunziger Jahre von rund 10 auf etwa 20 Prozent zu. Im Jahr 2004 stieg er als Folge des trockenen Sommers von 2003 stark an."
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