Ein unnützes Wunder aus Styropor
Velofahren ohne Helm soll in der Schweiz verboten werden. Was sind die Auswirkungen?
Was, Sie fahren in der Stadt Velo? Ist das nicht wahnsinnig gefährlich? Tragen Sie wenigstens einen Helm?» Wer seinen Alltagsverkehr auf einem Velo bewältigt, bekommt solche Fragen öfter zu hören. Und wer das noch nie gehört hat, konnte zumindest die Velohelm-Kampagne der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU) nicht übersehen.
Die BfU möchte eigentlich ein Velohelm-Obligatorium einführen - doch vorher sollten mindestens vierzig Prozent aller VelofahrerInnen freiwillig zum Helm greifen (vgl. Kasten). Die Kampagne ist erfolgreich: 1998 trugen 18 Prozent einen Helm, 2002 schon 23 Prozent. Die Tendenz ist offensichtlich steigend, das Obligatorium absehbar. Widerstand im Parlament ist nicht zu erwarten - die Sache tönt schliesslich vernünftig und tut den AutofahrerInnen nicht weh. Es ist somit höchste Zeit, nach den tatsächlichen Auswirkungen von Helmen und Helmobligatorium zu fragen. Einschlägige Erfahrungen gibt es durchaus.
Die BfU-Kampagne vermittelt zwei Botschaften. Erstens: Velofahren ist gefährlich. Zweitens: Ein Velohelm schützt. Wer aus Bequemlichkeit auf den Helm verzichtet, hält sich langsam, aber sicher für unvernünftig oder verantwortungslos und entwickelt ein schlechtes Gewissen. Dies muss nicht sein, denn beide Botschaften sind falsch.
Velofahren ist nicht gefährlich
Die Behauptung, Velofahren sei gefährlich, stimmt genau so lange, wie man keinen Massstab ansetzt. Natürlich ist Velofahren gefährlich. Das Leben ist überhaupt gefährlich, nach Erich Kästner sogar lebensgefährlich. Velofahren ist aber weniger gefährlich als Tätigkeiten, bei denen kein vernünftiger Mensch das Helmtragen propagieren würde, auch wenn es sinnvoller wäre als beim Velofahren. Konkret: Die Gefahr, bei einem Unfall eine Kopfverletzung zu erleiden oder gar zu sterben, ist für Velofahrende kleiner als für Autoinsassen oder Fussgängerinnen. Wer beim Autofahren oder als FussgängerIn keinen Helm trägt, braucht auf dem Velo erst recht keinen.
Autoinsassen mit Velohelmen zu schützen, ist übrigens keine Jux-Idee. Die Regierung von Australien lässt bereits ein Helmobligatorium für AutofahrerInnen prüfen. Die Beratungsstelle für Unfallverhütung sagt keineswegs, dass dies nicht sinnvoll wäre, sie hält es lediglich für «nicht adäquat» und hofft auf geeignetere Mittel. Man kann sich leicht vorstellen, dass das Parlament die AutofahrerInnen niemals zu einer Helmpflicht verdonnert. Mit den VelofahrerInnen kann man es hingegen machen.
Der Helm schützt nicht
Nun gut, die Gefahr, ausgerechnet beim Velofahren auf den Kopf zu fallen, ist vergleichsweise klein. Wenn ich nun aber doch stürze, wird der Helm doch etwas nützen? Radio Eriwan antwortet: «Im Prinzip ja. Halten Sie sich nur fern vom Durchschnitt.»
Das Problem ist: Man kann mit einer technischen Berechnung oder einer Versuchsanlage mit Dummys Szenarien entwerfen, bei denen ein Helm schützt, und andere, bei denen er nicht schützt oder gar schadet. Beweisen lässt sich weder das eine noch das andere, weil sich nie sagen lässt, wie die Stürze in der Realität genau ablaufen, ob also der getestete Sturz repräsentativ ist. Man weiss zwar, was in einem ganz bestimmten Einzelfall mit und ohne Helm passiert, nicht aber, was sich in der Summe tut.
Man kann aber auch die Entwicklung des Unfallgeschehens ansehen. Die Velohelmwerbung gibt es schon seit mehr als zehn Jahren: In einigen Ländern konnte die Tragquote stark gesteigert werden, teilweise mit Obligatorien.
Was passiert nun, wenn viel mehr Leute mit Helm Velo fahren? Man erfährt nicht, was der Helm in einem Einzelfall bewirkt hat - doch erfährt man, wie er sich in der Summe auf die Verletzungen und Todesfälle auswirkt, also auf die Sicherheit beim Velofahren. Und um die soll es hier ja gehen.
In Australien und den USA ist die Helmtragquote in den letzten Jahren stark gestiegen. Die erste und deutlichste Erfahrung, die man in beiden Ländern gemacht hat: Es wird viel weniger Velo gefahren. In Australien sank der Veloverkehr mit der Einführung des Obligatoriums 1992 schlagartig um 30 Prozent, in den USA zwischen 1991 und 2000 um 21 Prozent (das Obligatorium gilt heute in 19 Bundesstaaten).
Die zweite Erfahrung ist, dass die Zahl der Kopfverletzungen entweder steigt (in den USA zwischen 1991 und 2000 um 10 Prozent) oder weniger stark sinkt (in Australien um 11 Prozent) als die Zahl der Velofahrenden. Es gibt pro verbleibenden und nunmehr vermehrt behelmten Velofahrer nicht weniger, sondern mehr Kopfverletzungen. Deshalb hat Ihnen Radio Eriwan oben gesagt, dass Sie den Durchschnitt meiden sollen.
Der Helm schadet also? Vorsicht! Mit der Helmnutzung haben zwar die Kopfverletzungen der Velofahrenden zugenommen, das ist aber noch kein Beweis, dass der Helm diese Zunahme auch verursacht hat. Wir können hier nur feststellen, dass sich kein Nutzen belegen lässt - schon gar nicht die 85-prozentige Reduktion der schweren Kopfverletzungen, mit denen die BfU das Obligatorium begründet.
Falsche Studien
Da setzt man einen Helm auf, und dann bringt er nichts? Ein behelmter Kopf ist doch logischerweise sicherer als ein unbehelmter? Der Widerspruch ist nur scheinbar; der gesunde Menschenverstand beisst sich hier mit der Wahrnehmung der Realität. Es scheint logisch, dass ein Helm den Kopf schützt, weil der Helm genau dafür gemacht ist. Wir schliessen also allein von der Existenz des Helmes auf seine Wirkung. Dieser Fehler ist der Grund, warum sich die Mär vom Nutzen des Velohelmes so hartnäckig hält. Wenn wir den Helm als eine der vielen Waren sehen, die VerkäuferInnen uns verkaufen wollen, und so kritisch betrachten wie andere Waren, akzeptieren wir die Möglichkeit, dass er nicht taugt, als ebenso plausibel wie das Gegenteil.
Der wichtigste Grund für die Diskrepanz zwischen Nutzversprechen und Realität sind überzogene Erwartungen.
-
Überzogene Erwartungen zum Ersten: Die Prognose der BfU (85 Prozent weniger Kopfverletzungen) ist ein statistisches Gespenst. Gleich die erste von der BfU zitierte Studie ist die berüchtigste: «A Case-control Study of the Effectiveness of Bicycle Safety Helmets» von Thompson/Rivara/Thompson, die 1989 erschienen ist. Es handelt sich um die Mutter aller Pro-Helm-Studien, bekannt unter dem Namen «Seattle-Studie», häufig auch als «Untersuchung amerikanischer Wissenschaftler» oder «englischer ärzte» zitiert, aber immer erkennbar an den sagenhaften 85 Prozent der schweren Kopfverletzungen, die ein Velohelm verhindern soll. Obwohl die Autoren zwei der gröbsten Fehler zugegeben haben, wird die Studie immer wieder zitiert, kopiert und abgeschrieben. Die Fehler der Studie sind dabei derart offensichtlich, dass es weh tut. Aus Platzgründen nur eine Auswahl:
-
Die Autoren setzten voraus, dass mehr als 20 Prozent der Velofahrenden Helme trugen. Diese Zahl ermittelten sie durch eine Umfrage unter KundInnen eines bestimmten Gesundheitszentrums. Die wirkliche Helmtragquote von Seattle lag in jener Zeit aber bei 3 Prozent. Weil die Wissenschaftler eine wesentlich höhere Zahl annahmen, kamen sie auch auf eine hohe Wirksamkeit des Helms, da der Anteil der Helmtragenden unter den Getöteten und Schwerverletzten tiefer war.
-
Die 85 Prozent wurden aus nur 3 Fällen hochgerechnet.
-
Aus den Daten der Studie geht mit den Berechnungsmethoden der Autoren (die eben zu den 85 Prozent geretteten Seelen führten) auch hervor, dass Helmtragende 72 Prozent weniger Verletzungen anderer Körperteile erleiden.
-
Ein allgemeiner Mangel, der sich durch die meisten solcher Studien zieht: Die Studie vergleicht zwei Unfallopfer nach Schwere der Verletzung und Kopfbedeckung, fragt aber nicht nach dem Unfallhergang und dem Fahrverhalten. In den achtziger Jahren waren Helme extrem selten und vorzugsweise bei weissen Mittelstandsfamilien anzutreffen, die zur Erfrischung ein bisschen auf dem Fussweg im Park radelten. Wenn der Junior über sein Seitenstützrad kentert, hat er vielleicht eine Schürfung und schreit wie am Spiess. Natürlich bringt man ihn ins Spital. Dorthin kommt auch ein unbehelmtes Armeleutekind, das auf einer normalen Strasse von einem Geländewagen flachgewalzt wurde. Die Studie stellt nun fest, dass ein Kind einen Helm trug und überlebte, das andere keinen Helm trug und nicht überlebte. Was dabei untergeht: Das eine wäre ohne Helm nicht gestorben, das andere mit Helm trotzdem.
-
Überzogene Erwartungen zum Zweiten: Der gesunde Menschenverstand empfiehlt den Helm bei der Passabfahrt mehr als beim Aufstieg. Die Gebrauchsanweisung und die Prüfnorm des Helmes sind diesbezüglich ernüchternd: Die Wirksamkeit endet bei 24 Stundenkilometern. Was nicht ausdrücklich drinsteht: Diese Aufprallgeschwindigkeit erreicht man bereits, wenn man aus dem Stand umkippt. Der Helm ist also überfordert, wenn man vor dem Umfallen nicht anhält. Man vermutet eine Schutzwirkung des Helmes gerne dort, wo man am dringendsten eine brauchen kann, aber genau da kann der Helm keinen Schutz bieten. Es ist wie mit einem Bankkredit: Er steht nur dann zur Verfügung, wenn man ihn nicht braucht.
-
Überzogene Erwartungen zum Dritten: Der Velohelm kann nicht so gebaut werden, dass er den Kopf bei Stürzen tatsächlich vor schweren Verletzungen schützt und gegebenenfalls ein Leben rettet. Es gibt zwar wirksamere Helme: diese meist schwarzen Einfamilienhäuser, die sich die Töfflifahrer (obligatorisch) über den Kopf stülpen. Töffli und Velos fahren mit annähernd gleicher Geschwindigkeit, bergab (wo man die grössten Gefahren wittert) sowieso. Ist nun der Töffhelm übertrieben oder der Velohelm untertrieben? Die Antwort liegt natürlich im Pragmatismus: Wenn wir einen Velohelm so konstruieren wollen, dass er beim Sturz Leben rettet, haben wir einen Töffhelm. Und mit dem kann niemand Velo fahren. Der Velohelm ist ein Kompromiss, der genau das kompromittiert, was Sie sich vom Helm erhoffen: den Schutz Ihres Kopfes vor schweren Verletzungen.
Erwarten wir also nicht mehr zu viel. Aber warum finden wir gar keinen Nutzen? Hier etwas zu beweisen, ist nicht möglich. Man kann bestenfalls ein paar Vermutungen anstellen:
-
Erste Hypothese: Helmtragende verunfallen eher. Der Kopf wird mit Helm grösser und schwerer, was nicht gut für das Gleichgewicht ist. Wer einen Helm trägt, dreht den Kopf langsamer und sieht weniger. Und der Kopf wird wärmer, sodass man langsamer reagiert. Alles Kleinigkeiten, auf die es gerade dann ankommt, wenn sich entscheidet, ob man nun stürzt oder nicht.
-
Zweite Hypothese: Die Helme sind kaputt. Auch hier hilft die Gebrauchsanleitung. Wenn der Helm zu Boden fällt, müsste man ihn entsorgen und einen neuen kaufen. Das sieht nach einem simplen Abkassiertrick aus, aber es stimmt leider. Bei einem Aufprall wird das Material zwischen den Schalen komprimiert, dadurch wird Energie geschluckt, damit der Kopf sie nicht abkriegt. So und nicht anders funktioniert der Velohelm. Dieser Vorgang kann nicht rückgängig gemacht und wiederholt werden. Wenn Ihnen der Helm also ein einziges Mal zu Boden gefallen ist, wirkt er nie mehr. Wenn nun die Nichtjongleure unter den Velofahrenden (das ist die Mehrheit) täglich zwei- oder viermal mit dem Helm hantieren, wie häufig fällt der dabei zu Boden, einmal pro Woche? Zweimal pro Monat? Dreimal pro Jahr? Und kaufen die dann jedes Mal einen neuen? Jedes Mal, ohne zu mogeln? Und bei den Kindern - wissen die Eltern überhaupt, wenn der Helm auf den Boden gefallen ist? Oder fahren sie mit einem längst kaputten Helm herum, und die Eltern wähnen sie dank dem Helm in Sicherheit und kommen so gar nicht auf die Idee, die Bremsen zu kontrollieren?
-
Dritte Hypothese: Der Helm schadet beim Aufprall mehr, als er nützt: Hier vermutet man zunächst, dass ein behelmter, also grösserer und schwererer Kopf auch dann auf den Boden knallt, wenn ein unbehelmter Kopf den Boden nicht oder nur unerheblich berührt hätte. Abgesehen von der reinen Physik wird auch damit argumentiert, dass die Menschheit das Herunterfallen von allen möglichen Dingen seit Jahrtausenden geübt habe und den Kopf instinktiv zu schützen wisse, was aber schlechter klappt, wenn man diesen künstlich vergrössert und beschwert. Kommt es doch zum Aufprall, kann der Helm dem Fahrer das Genick brechen. Nicht alle Helme sind so konstruiert, dass sie dies nicht noch begünstigen.
-
Vierte Hypothese: Helmtragende fahren riskanter: Der Mensch tendiert dazu, die Risiken, die er eingeht, konstant zu halten, indem er eine tatsächlich oder vermeintlich erhöhte Sicherheit mit riskanterem Verhalten kompensiert. Dieses Verhalten lässt sich bei vielen Sicherheitsmassnahmen beobachten, zum Beispiel auch bei Gurten, Antiblockiersystem und Airbags in Autos. Ein Teil der zusätzlichen Sicherheit geht gleich wieder verloren. Da nun der Velohelm, wie wir hier sehen beziehungsweise aus der Statistik erfahren, wenig oder gar keine zusätzliche Sicherheit bringt, kompensiert der behelmte Mensch etwas, was es nicht gibt. Es bleibt nur das grössere Risiko.
- Fünfte Hypothese: Die Erfahrung in Australien hat gezeigt, dass erfolgreiche Helmpropaganda und erst recht Helmobligatorien die Leute vom Velofahren abhalten. Mit der Zahl der Velos sinkt auch die Wahrscheinlichkeit für die AutomobilistInnen, mit Veloverkehr konfrontiert zu werden. Der Verkehr wird schneller, rücksichtsloser und gefährlicher, mit den entsprechenden Konsequenzen für den verbliebenen Veloverkehr (und übrigens auch für die FussgängerInnen).
Fünf Erklärungsansätze für die bisher beobachtete Nichtwirkung des Helmes. Keine eröffnet eine Möglichkeit, das Ding zu verbessern. Soll man den Helm jetzt fortwerfen, selbst wenn er noch gar nicht zu Boden gefallen ist? Bedenken Sie zuerst, dass die Fakten, die wir haben, lediglich Summen sind. So viele Leute sind Velo gefahren, so viele sind verunfallt, so viele erlitten eine Kopfverletzung. In Einzelfällen kann der Helm schützen, der Schutz verliert sich nur in der Gesamtsumme. Eindeutig ist nur: Der Helmzwang führt zur Reduktion des Veloverkehrs.
Spielzeug oder Verkehrsmittel?
Die Interessengemeinschaft Velo Schweiz (neues Fenster) lehnt genau aus diesem Grund ein Obligatorium ab. Dagegen sieht das Bicycle Helmet Safety Institute - sozusagen die Internetzentrale der Helmwerbung - kein Problem darin, dass die Leute mit dem Velofahren aufhören. Man könne sich ja auch mit tausend anderen Aktivitäten fit halten, zum Beispiel Jogging, Squash, Aerobics, Volleyball oder Klettern. Ob man ein Helmobligatorium haben will oder nicht, hängt offenbar auch davon ab, ob man im Velo überhaupt ein Verkehrsmittel oder ein Spielzeug sieht und ob man lieber mehr Velos oder mehr Autos im Stadtverkehr haben möchte.
Sie möchten immer noch wissen, ob Sie mit oder ohne Helm fahren sollen? Freuen Sie sich darüber, dass Sie sich diese Frage noch stellen dürfen. In Australien wanderte ein Helmverweigerer schon ins Gefängnis. Fahren Sie so, wie Sie sich wohl fühlen. Zeigen Sie Flagge und fahren Sie überhaupt Velo!
Christoph Kaufmann
Illustration
Erstveröffentlichung am 26. Juni 2003 in der WochenZeitung WoZ (neues Fenster).
Zurück zur Hauptseite von ecoglobe zur Verkehrsseite.
|