Warum es immer schwerer ist, alt zu werden.
Die Nicht-mehr-Philosophie - von Hans Saner, 1993
Paradox
"Die Alten" - ein Schimpfwort. Dabei werden wir alle alt. Hans Saner, Basler Philosoph, Jahrgang 1934, hält sich an das Paradox: "Die Tragödie des Alters besteht darin, dass man jung ist": Ein Vorabdruck aus Saners neuestem Buch ‘"Macht und Ohnmacht der Symbole", Lenos Verlag).
Das Kind ist das Noch-nicht, und die Alten sind die Nicht-mehr. Die negativen Begriffe "Kind" und "Greis" sind nur zwei Stiefel desselben Paares. Überall nämlich, wo Menschsein direkt oder indirekt von einer "natürlichen" Reifeform her definiert wird, kann die Kindheit nur als Vorstufe und das Greisenalter nur als Dekadenz verstanden werden. Kinder und Greise sind Mängel-Menschen, und ihnen fehlt keineswegs etwas Beiläufiges, sondern das zentral Menschliche: Sie können noch nicht oder nicht mehr richtig reden; sie sind noch nicht oder nicht mehr vernünftig, noch nicht oder nicht mehr zurechnungsfähig, noch nicht oder nicht mehr reinlich, noch nicht oder nicht mehr produktions- und genussfähig, noch nicht oder nicht mehr freiheitsfähig. Von den so eingeschätzten Alten sagt man dann konsequenterweise, dass sie wieder "an Kindes Statt" kommen, und man hält zumindest die Möglichkeit ihrer Entmündigung offen.
All das beruht primär keineswegs auf Beobachtung, sondern auf einer naturalistischen Metaphysik, die das Fundament der einst so populären Lebensalterslehren ist, ein Fundament, das in nahezu alle Anthropologien eingegangen ist, seien sie nun biologischer oder philosophischer Herkunft. Es besagt, dass das Leben des Menschen letztlich der gleichen Ordnung unterliegt wie das Leben der Pflanzen und das der Tiere: dass es aus dem Nicht-Sein aufkeimt, wächst, sich zur Reife entfaltet - dort am fruchtbarsten ist -‚ dann allmählich an Kraft verliert, welkt und stirbt. Nach diesem Modell ist, so glaubte etwa Herder, auch das Leben der Völker geordnet. Spengler und Toynbee legten es ihren Kulturmorphologien zugrunde. Eine Zeit, die verzweifelt nach einer neuen Naturphilosophie sucht, wie die unsere, ist für diese Metaphysik empfänglich. Die Botschaft von der Eingebundenheit in die Natur wird dort am erfolgreichsten vertreten, wo der Lauf aller Dinge natürlich ist und wo die Menschen, ihre Gemeinschaften und deren Kulturen zu Naturdingen reduziert werden. Der Preis dieser "Weisheit" - ich behaupte, dass sie unter den populären totalisierenden Weltanschauungen die am meisten verbreitete ist - ist immer der Verlust der Freiheit oder der Verzicht auf sie. Menschen verhalten sich dort und dann wie Naturwesen, wo sie ohne Freiheit sind. Am ehesten, so dachte man immer, im Bereich ihrer Leiblichkeit. Aber auch das ist unrichtig. Sie verhalten sich nie und nirgends wie blosse Naturdinge, und deshalb sind die naturalistischen Lebensmodelle für den Menschen in sich falsch.
Die Moderne aber fand in ihnen ein geeignetes Instrument für die Heiligung der Arbeit als Leistung und für deren Verkoppelung mit der Macht: Keinem Philosophen der Antike oder des Mittelalters wäre es jemals eingefallen, den Menschen für den menschlichsten zu halten, der durch seiner Hände Arbeit am meisten herstellt. Wer derart arbeitend lebte, war ein bánausos, ein Handwerker, und das schickte sich lediglich für die Unterschichten und die Sklaven. Für einen freien Bürger bestand die grösste Leistung im mitbestimmenden Dienst an der Polis und in der vernünftigen Lebensgestaltung im Rahmen der Musse, Für dies letzte gab es kein Quantum mehr als Richtmass. Die sinnvoll gestaltete Lebenszeit war als Qualität das Ziel, Es konnte auch im hohen Alter erreicht werden, wenn man nur gelernt hatte, das Unvermeidliche zu ertragen und dem Unnötigen zu entsagen.
Zu Beginn der Neuzeit musste sich das aufstrebende Bürgertum die Rechte der politischen Mitbestimmung erst wieder zurückerobern. Aber mit dem Ideal der Musse brach es radikal. Die Gründe mögen sehr komplex gewesen sein. Leistung jedenfalls musste sich nun "produktiv" ausweisen. Als Ausnahme geschah es in der ingeniösen Erfindung oder im genialen Werk, als Regel in der Arbeit und in deren Organisation. Im ersten Fall zeigte sich die Qualität einer Leistung in ihrer Neuheit. Im zweiten Fall wies sie sich vor allem durch das Quantum aus. Die Menge an Arbeitskraft, Arbeitszeit, die Schnelligkeit und Fertigkeit der Herstellung und damit die Menge der Produktionsgüter bestimmten den Grad der Leistung. Mit dem Siegeszug des technischen Zeitalters wurde ein weiterer Faktor entscheidend: die Exaktheit der Arbeit. Nun wurde es zunehmend schwieriger, Arbeiter zu sein; denn das, was die Leistung der Arbeit ausmachte: das Quantum und die Exaktheit, schien sich auszuschliessen. Man musste geschickt und fleissig, schnell und exakt, aufmerksam und ausdauernd sein, und das war Menschen in hohem Alter kaum möglich. Wer also war alt? Der, der nicht mithalten konnte mit der Norm der Arbeitsleistung. Er wurde in die schlecht- oder unbezahlte Schattenarbeit abgeschoben oder aus dem gesellschaftlichen Arbeitsprozess ganz ausgestossen. Wir machen das heute durch die Pensionierung humaner. Aber auch sie ist nicht der Dank für die geleisteten Dienste, sondern die Vorschau auf die nicht mehr zu erwartenden.
So wie die Demokratie als Staatsform der verzweifelte Versuch ist, durch das Quantum (die Mehrheit) die Qualität (den vernünftigen und gerechten Entscheid) zu erreichen, so ist die Leistungsgesellschaft der verzweifelte Versuch, die Qualität des Menschen durch das Quantum seiner Leistung zu bestimmen. Beide haben sich bei uns gegenseitig hervorgebracht, obwohl sie nicht notwendigerweise zusammengehören. Es gibt moderne Leistungsgesellschaften, die nicht Demokratien sind, aber keine moderne Demokratie, die nicht eine Leistungsgesellschaft wäre. Vielleicht sind beide lediglich durch den Glauben miteinander verbunden, dass Quantität in Qualität umschlägt oder dass das grosse Quantum zumindest eine Garantie für die Qualität in sich schliesst.
Die soziale Konsequenz der Philosophie des Nicht-mehr war bei uns die zunehmende Gettoisierung der alten Menschen. Durch die allmähliche Umstrukturierung der Agrargesellschaften in eine industrielle Gesellschaft verschwand die Grossfamilie und mit ihr jener Lebensraum, in dem es einerseits die natürliche Fürsorge für die alten Menschen durch die nächste Generation gab, andererseits die umsorgende Schattenarbeit der Alten für die übernächste Generation, die Kinder der Kinder. Verdammt zur Rolle der Rollenlosigkeit, verunsichert durch die Abnahme der Kräfte, in der Regel beengt durch ökonomische Zwänge und, in der Folge all dessen, zunehmend vereinsamt, sucht und findet man Zuflucht im Altersheim, einer Mischung aus Spital und Anstalt, in dem man gesellschaftlich endgültig marginalisiert ist. Unter seinesgleichen, das heisst unter Altersgenossen, verkürzt man sich im Getto das Warten auf den Tod, im einzigen noch verbleibenden Stolz, dass man zumindest niemandem zur Last fällt.
Wir wissen nur andeutungsweise, wie die nicht alten Menschen diese Entwicklung zur Gettoisierung erleben. Eine Umfrage hat bei amerikanischen Kindern ergeben, dass bereits die Zehnjährigen ein negatives Bild vom alter haben. Sie halten die sechzigjährigen Menschen, besonders die Männer, für isoliert und vereinsamt. Die Altersmittelschicht kennt andere Sorgen. Sie schiebt die Alten zunehmend in die Rolle von Parasiten, die, ebenso wie die Kinder, von der Produktionskraft der Arbeitenden leben. Sie werden deshalb als soziale "Drohung und Bürde" empfunden, die man, wie jede Last, los sein möchte. Der Befund schmeichelt den Alten nicht. Aber er macht angst vor denen, die "mitten im Leben" stehen, und nachdenklich vor einer Entwicklung, die auf uns zukommt. Sie könnte in den sozialen Hass führen, der die latente ideologische Diskriminierung der Alten in eine manifeste praktische verwandelt und diese auch rechtlich absichert.
Um das zu verhindern, müssen wir, gegen eine lange Tradition, neu über das Alter nachdenken lernen. Dass Altwerden die Norm ist, verändert alles. Wenn uns klar wird, dass die Alten das sind, was wir (fast) alle mit grosser Wahrscheinlichkeit einst sein werden, verlieren sie jeden Anstrich des Fremden und der Minderheit. Altsein ist keine Ausnahme. Es ist weder mehr noch weniger als "normales" Menschsein. Es ist ein normaler Prozess des Wandels im Menschsein, der, wie jeder andere, seine Grenzen und Vorzüge hat. So wie es einfach läppisch wäre, ein siebenjähriges Kind daran zu bemessen, ob es gleich hoch springen kann wie ein zwanzigjähriger Athlet, so ist es schlicht und einfach dumm, die Lebensform alter Menschen an einer sogenannten Reifeform der Fünfundvierzig- oder Fünfzigjährigen zu bemessen. Der Mensch ist Mensch in jedem seiner Lebensalter. Jedes Lebensalter ist den anderen in einzelnen Momenten überlegen, in anderen unterlegen. Im Hinblick auf jedes müssen wir die ihm eigenen Qualitäten entdecken und sie kultivieren. Reife im Umkreis des Humanen ist kein Geschenk der Natur an eine Altersstufe, sondern die Kultur der spezifischen Lebensqualitäten in jedem Lebensalter. Es gibt Kinder die reifer sind als die Reifen von Alters wegen. Wer sich das vergegenwärtigt, spürt den Machtanspruch in den Philosophien des Noch-nicht und des Nicht-mehr und befreit sich leichter aus ihm.
In diesem wertenden Sinn ist Altern ein teilbarer und ein oft reversibler Prozess. Wir altern nicht unbedingt gleichzeitig körperlich, geistig-seelisch und sozial. Wir können körperlich im Alter hinfällig werden aber von grosser geistiger Frische sein und seelisch ganz beweglich bleiben. Wir können körperlich und geistig geschmeidig sein aber aus dem sozialen Arbeitsprozess ausgeschlossen werden, weil auch die Gesellschaft ein Vorurteil gegen unser Alter hat. Sind wir nun alt oder jung?
Vielleicht erzeugt die Nicht-Gleichzeitigkeit des Alterns die Alterstragödien. Obwohl man sich jung fühlt, sieht man das Alter hereinbrechen oder spürt, dass man für alt gehalten wird. Zu einer Tragödie wird das nur, wenn die verbliebene Jugend das hereinbrechende Alter, aufgrund der Vorurteile, nicht annehmen kann. Oscar Wilde hat diese Möglichkeit in das paradoxe Bonmot gebracht: "Die Tragödie des Alters beruht nicht darin, dass man alt ist, sondern dass man jung ist." Die Annahme des Alters ist dem leichter, de sich aus den Vorurteilen befreit.
Für diese Befreiung spricht letztlich die gegenläufige Doppelstruktur unseres Daseins. Es ist zugleich sterblich und geburtlich. Als sterbliches nimmt es nicht nur ein Ende, sondern es ist endlich. Als geburtliches hat es nicht nur einen Anfang, sondern es ist anfänglich. Das Kind ist nicht weniger sterblich als der Greis, der Greis nicht weniger geburtlich als das Kind, wenn auch das Kind von der faktischen Geburt wenig weit entfernt ist und der Greis dem Tod in der Regel näher sein mag. Sofern unser Dasein anfänglich bleibt, ist es bei seinem Ursprung in der Welt. Es ist dann, metaphysisch gesprochen, in jedem Alter der Möglichkeit nach jung. Denn: "Jung ist, was seinem Ursprung nahe steht" (Baader).
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Quelle: LEBEN HEUTE - Die Weltwoche Nr. 33, 19. August 1993 S. 43
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