[In Rio ging's den Machtausübenden ums Geld, verfangen in der Wachstumsideologie.]
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Das gute Leben gibt es nicht umsonst
Die Welt kann auf Umweltkonferenzen nicht gerettet werden

Der nachstehende Artikel erschien in "Der Spiegel"
[Vergleichen Sie auch:
  • Die ökologisch wirren Schafe von SwissCleanTech
  • "Rio" +5 +20 +40 - The Carnival Continues
  • "Grüne Wirtschaft" und Wachstum - DRS Reportage von Priscilla Imboden
  • [Farbige Hervorhebungen und Kommentare von ecoglobe.ch ]

    Das gute Leben gibt es nicht umsonst Die Welt kann auf Umweltkonferenzen nicht gerettet werden.

    Von Harald Welzer

    Was kann man tun, wenn in einem Zeitraum von, sagen wir, zwanzig Jahren drei Millionen Quadratkilometer Urwald zerstört werden, um Flächen für agrarindustriellen Soja- und Palmölanbau zu gewinnen? Wenn sich in denselben zwei Jahrzehnten Tausende Tierarten auf Nimmerwiedersehen aus der Evolution verabschieden, wenn die C02-Emissionen zum Entsetzen der Klimaforscher um knapp die Hälfte ansteigen, wenn in dieser Zeit der globale Energieverbrauch Jahr für Jahr um zwei bis drei Prozent wächst?

    Ganz einfach: Man kann sich Sorgen machen. Wie 1992, als der erste ,,Erd-Gipfel” in Rio stattfand und die Sorgen um die Zukunft des Planeten schon genauso groß waren wie heute, sein Zustand aber noch erheblich besser zu sein schien. Und man kann dann etwas machen, was dem Regenwald, dem Klima, der Artenvielfalt bestimmt hilft: eine neue Konferenz. Mit 50000 Teilnehmern. Also mit 100000 Flügen, einer Million Taxifahrten, Telefonaten, Powerpoint-Präsentationen, Videokonferenzen, Catering, Getränken, mit allem also, was so dazugehört.

    Dieser ganze Betrieb, der für die Fluggesellschaften, das Gastgewerbe und die Energiekonzerne toll ist, findet übrigens ganz unbeschadet davon statt, dass das Abschlussdokument im Grunde schon formuliert ist, bevor der erste besorgte Teilnehmer in seinen Flieger gestiegen ist. Und unbeschadet davon. dass nichts, aber auch gar nichts beschlossen wird. Man kann das Ganze dann unabsichtlich komisch Rio+20 nennen, als ginge es darum, dass die 50000 Teilnehmer von 1992 jetzt zwanzig Jahre älter geworden sind, oder wahlweise darum, dass die Schäden am Planeten seit der letzten Konferenz um zwanzig Prozent zugenommen haben.

    Bei Rio+20 ging es aber ganz unironisch um die Wiedervorlage des Beschlusses, die Welt zu retten. 1992, beim ersten Mal Rio, wurde dem Publikum das Konzept der nachhaltigen Entwicklung vorgestellt, von dem bis heute immerhin 50 Prozent umgesetzt worden sind: 100 Prozent Entwicklung, 0 Prozent Nachhaltigkeit. Das Motto diesmal wird genauso erfolgreich umgesetzt werden. Es heißt „Green Growth”. Und das Ergebnis in zwanzig Jahren wird ähnlich sein: 100 Prozent Growth, 0 Prozent Green. Beides zusammen geht nicht, zumindest wenn es unter wachstumsökonomischen Vorzeichen stattfindet.

    Die vergangenen zwanzig Jahre zeigen ja, wie die rasante Entwicklung der Schwellenländer mit ihren zum Teil zweistelligen Wachstumsraten zum Gegenteil von Nachhaltigkeit führt: zum ungebremsten „Extraktivismus”. Brasilien, das Gastgeberland, ist das Musterbeispiel dafür. Es verdankt sein Wirtschaftswunder dem verstärkten Abbau von Bodenschätzen, dem Abholzen der Wälder, der Verwandlung von landwirtschaftlichen Anbauflächen in gigantische Monokulturen. Weil Ähnliches in den anderen Schwellenländern geschieht, seit der Ostblock zusammengebrochen ist und die kapitalistische Wirtschaftsweise endgültig ihren globalen Siegeszug angetreten hat, verzeichnen wir fast überall die Entstehung von Mittelklassen, von Konsumgesellschaften, von erhöhtem Wohlstand, von besserer Bildungs- und Gesundheitsversorgung. Das, was in ökologischer Hinsicht spektakulär verlorene Jahre waren, das sind für die aufsteigenden Bevölkerungsgruppen Wirtschaftswunderjahre, psychologisch wie ökonomisch vergleichbar mit der westeuropäischen Nachkriegszeit.

    Hier und in den USA ging es schon vor einem halben Jahrhundert richtig los mit dem Massenkonsum und der permanenten Ausweitung der Komfortzone. Die Kehrseite des Aufstiegs bildeten exponentielle Steigerungsraten im Material- und Energieverbrauch, bei den Emissionen und beim Müll — genau wie jetzt in den Schwellenländern. Das zugrunde liegende Prinzip ist simpel. Es gibt in Wachstumswirtschaften viel mehr Treiber für Entwicklung ais für Nachhaltigkeit. Während heute jeden Tag 50000 Hektar Waid gerodet werden, Dutzende Arten verschwinden und 350000 Tonnen Fisch aus dem Meer geholt werden und Investoren überall auf der Welt Land aufkaufen, hat sich die weitweite Armut reduziert. Der Anteil der Weitbevölkerung, der pro Tag nicht mehr als 1,25 Dollar ausgeben kann, hat sich seit Rio 1992 halbiert. 1,3 Milliarden Menschen gelten als arm, aber auch diese Zahl durfte bald sinken. Beim Zugang zu Trinkwasser gibt es die gleiche Tendenz. insgesamt werden weit mehr Lebensmittel produziert ais vor zwanzig Jahren, und sogar die Zahl der Kriege hat abgenommen.

    Was man hier beobachten kann, entspricht insgesamt genau jenem "Fahrstuhleffekt”, der den sozialen Frieden in der europäischen Nachkriegszeit gewährleistet hat. Zwar blieb soziale Ungleichheit bestehen, steigerte sich zum Teil sogar, aber mit dem Lebensstandard ging es nach oben. Das ist das Verdienst des Prinzips der Wachstumswirtschaft. Kein System in der Neuzeit hat historisch vergleichbar schnell soziale Verhältnisse verbessert und damit für viele zum ersten Mal ein Gefühl von Chancen und Freiheit gegeben.

    Leider ist dieses System seinem Wesen nach aber auch zutiefst unökonomisch. Es zerstört die Voraussetzungen, auf die es gebaut ist. Und es kann damit nicht aufhören, weil Expansion das Gesetz seines Erfolgs ist. Dafür braucht es Rohstoffe unterschiedlicher Art, auch in einer Welt mit erneuerbaren Energien. Deshalb kann es höchstens relative Entkoppelungen von Materialverbrauch und Wirtschaftswachstum geben, keine absoluten. also: no green growth. [ecoglobe: Auch "relative Entkoppelung" gibt es nicht. Vgl. "Decoupling" - of resource use, impacts, etc. from economic growth.]

    Die Wahrheit ist nicht schön. Das ethisch wünschenswerte Ziel global auch nur annähernd egalitärer Wohlstandsniveaus steht in Widerspruch zu allen Nachhaltigkeitszielen. Ökologie und Wachstum schließen sich wechselseitig aus. Will man soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit im globalen Maßstab, hilft alles nichts: Dann muss man die Komfortzone verlassen. auf Wohlstand verzichten, abgeben, andere Modelle des Verteilens, Wirtschaftens und Lebens entwickeln.

    Was das politisch heißt, kann weder mit dem Kauf von „fair” gehandeltem Kaffee noch durch das rituelle Verlautbaren von Absichten beantwortet werden, sondern nur durch die ernsthafte und konfliktträchtige Auseinandersetzung darüber, was man für die Zukunft behalten und was man aufgeben möchte.

    Im 21. Jahrhundert stehen wir vor der höchst konkreten Frage, wie man den durch die kapitalistische Wirtschaft erreichten zivilisatorischen Standard in Sachen Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Bildungs- und Gesundheitsversorgung aufrechterhalten und zugleich die Ressourcenübernutzung radikal zurückfahren kann. Wenn man das ernsthaft will, geht das nicht ohne deutliche Wohlstandsverluste. Das gute Leben gibt es nicht umsonst.

    Durch die Übersprunghandlungen des Weltrettungskonferenzbetriebs und die Magie vom grünen Wachstum aber wird suggeriert, dass die Zukunft wie die Gegenwart sein wird, nur nachhaltiger. Genau deshalb ist die Kritik an BP, Monsanto, McDonald’s, Coca-Cola et cetera so wohlfeil. Was die anrichteten und anrichten, lässt sich einfach besser skandalisieren als der eigene Beitrag dazu, dass sie das anrichten können. So erklärt sich auch die Vorliebe für das Thema Emission und die Abneigung gegen das Thema Extraktion. Denn auf die Frage. für wen das alles aus den Böden und Gewässern geholt wird, gibt es nur eine Antwort: für mich, für uns alle! Für die Emissionen und den Klimawandel aber kann man immer jemand anders verantwortlich machen als sich selbst.

    In den Jahrzehnten seit dem Aufkommen der Umweltbewegung bat sich eine Öko- und Nachhaltigkeitsindustrie mit einem eigenen Betriebssystem etabliert, in dem die NGOs, Stiftungen, Kommissionen, Think-Tanks und Räte in einem Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Mittel stehen. Deshalb die vielen Konferenzen, die nichts anderes sind als Messen, auf denen eine Moral gehandelt wird, die die brutale Wirklichkeit des allgegenwärtigen Raubbaus ein bisschen netter daherkommen lässt.

    Zugleich wird mehr denn je zuvor gebohrt, gefördert, planiert, gerodet und konsumiert, die Anbauflächen, die großindustriell mit gentechnisch veränderten Pflanzen bebaut werden, werden ausgedehnt, um kurzfristig höhere Erträge zu erzielen, als eine nachhaltige Nutzung es erlauben würde. Die expansiven Strategien werden desto mehr intensiviert, je deutlicher die Knappheiten zunehmen.

    Der Alarmismus der Ökos und der Klimaforscher sorgt nur für die Mitteilung, dass die Party womöglich bald vorbei sein könnte. So finden Ökobewegung und heißlaufender Extraktivismus in jener friedlichen Koexistenz zueinander, für die Rio+20 steht. Die einen sind für die Zerstörung des Planeten zuständig, die anderen für die Besorgnis darum. Es geht daher in Zukunft, nach der Abschaffung aller Weltrettungsgipfel, um das Öffnen eines Korridors zwischen kurzfristiger Handlungslogik und langfristigen Problemlagen. Den wollen auch die Wirtschaftsakteure, weil sie kurzfristig wettbewerbsfähig und langfristig überlebensfähig sein müssen, was unter wachsendem Ressourcenstress immer schwieriger werden wird.

    Daher brauchen Unternehmen Perspektiven für eine andere Praxis: wie Formen der Kreislaufwirtschaft und der Gemeinwohlökonomie in die Unternehmensstrategie integriert werden können, wie sie von Vorreitern lernen können, ohne Wachstum erfolgreich zu sein, wie ökologische und soziale Prinzipien in betrieblicher Praxis zusammenkommen können.

    Für die Transformation zur Nachhaltigkeit gibt es keinen Masterplan. Sie ist ein kollektiver Lernprozess, und zwar ein unausweichlicher. Es gibt jede Menge Labore einer zukunftsfähigen Wirtschaft und Gesellschaft. Sie existieren in Form von Energiegenossenschaften, Baugruppen, Bioenergiedörfern, Nachbarschaftsgärten, alles vielfältige Spielarten gelebter und in Erprobung befindlicher Transformation. Das Wissen, das hier entsteht, ist wichtig für den Weg in eine nachhaltige Welt. Der Schlüssel für die Wiedergewinnung von Zukunftsfähigkeit liegt in der Praxis, nicht in Stellvertretungsbesorgnis und Alarmismus. Daraus lässt sich kein Entwurf ableiten, wie man leben möchte.

    Rio? Vergiss es.

    Welzer, 53, ist Professor fur Transformationsdesign an der Universität Flensburg und Direktor der Stiftung FuturZwei.

    Quelle: DER SPIEGEL 26/2012 Seite 62-63, Wiedergabe für wissenschaftliche, nicht-kommerzielle Zwecke.

    ecoglobe: Eine "Wiedergewinnung von Zukunftsfähigkeit" ist Positivismus, mit dem jeder Artikel obligatorisch abgeschlossen werden muss, wenn er publiziert werden soll. Optimismus ist Pflicht!

    Die Wirklichkeit sieht anders aus:

    1. Das Ausmass der Überbelastung der Erde ist riesig, vielleicht sogar das 400-fache des von der Natur Ertragbaren (Vgl. "Die Dringlichkeit der Wachstumsrücknahme"

    2. Die Geschwindigkeit des Umweltverbrauchs und der unwiederbringlichen Zerstörung wächst im Gleichschritt mit Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum. Dennoch fordern fast alle Führer und Führerinnen der ganzen Welt weiteres und stärkeres Wachstum.

    3. Fast alle sind felsenfest davon überzeugt, dass Hoffnung, Optimismus und Technologie ("HOT") die "Lösungen" erbringen werden. Keine dieser Dreifaltigkeit wird jedoch ausgestorbene Arten wiederbeleben können, aufgebrauchte Rohstoffe wieder schaffen oder die grossen Umweltschäden reparieren können.

    4. Sogar wenn morgen, auf wundersame Weise, die Mächtigen der ganzen Welt, einschliesslich der angepassten Medien,
      a. verstehen würden, dass Wachstum eine Selbstmordpolitik für die Menschheit ist,
      b. sie das Ausmass der Überbelastung der Erde verstehen würden und deswegen
      c. eine Politik der Schrumpung und Abschaffung ökologisch schädlicher Produkte, Strukturen und Verhaltensweisen in den Weg leiten würden,
    sogar dann wird es zu spät sein, weil die Schrumpung und die Änderungen zu viel Zeit und Ressourcenaufwand brauchen.

    5. Die Praxis einiger Bürgerinitiativen ist weniger als ein Tropfen auf dem heissen Stein der Erdenbelastung durch die Menschheit und sie ist keine Gegenkraft zur stumpfen Gewalt der Wachstumspraxis.

    6. Ausserdem sind auch diese wohlmeinenden Menschen meistens der Idee verhaftet, dass man mit HOT unseren heutigen Lebenstandard irgenwie beibehalten könnte.

    7. Wir wären vielleicht überlebensfähig mit maximal 500 Millionen Erdenbewohner-Innen auf einer vorindustriellen Wohlstands- und Verbrauchsebene, das heisst eine Gesellschaft von vor 1712. Es gibt keinen geordneten Weg zurück dorthin, bevor unsere Gesellschaft durch Ressourcenmangel und Umweltzerstörung zusammenbricht.
    Spätestens nach dem Ende des Ölfördermaximums wird die moderne Gesellschaft zusammenbrechen.
    In dem dadurch enststehenden Chaos werden die Atomwaffen und Nuklearkraftwerke wahrscheinlich allmählich ohne Aufsicht und Wartung zu einer allgemeinen radioaktiven Verstrahlung führen, mit verheerenden Folgen für alles Leben auf der Erde.
    Nach dieser menschengemachten Apokalypse werden jene die an einen Gott glauben je nach Religion in ihren eigenen Himmel wandern. Die anderen Menschen werden einfach verschwinden. In beiden Fällen wird es keine Erinnering an die Menschheit geben.

    Vgl.
  • "Umweltbelastung = Bevölkerungsgrösse X Wohlstand X Technikniveau" I=PxAxT
  • "Himmelfahrt ins Nichts
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